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Das Armen- Arbeitshaus

von Fee Lautenschläger

Das Armen-Arbeitshaus zählte für den Göttinger Stadt-Physikus Karl Marx zu den „neuesten Einrichtungen der Armen- Anstalten in Göttingen“. Es wurde 1818 in der Angerstraße als moderne Institution an Stelle des bisherigen „Werkhauses“  gegründet und hatte bis zum Jahre 1911 in seiner ursprünglichen Funktion als geschlossene Armenpflege Bestand (Marx 1824, S. 300).

Aufruf der Göttinger Armen-Deputation und des Frauenvereins

Aufruf der Göttinger Armen-Deputation und des Frauenvereins, Flugschrift Göttingen 1854.

Das 19. Jahrhundert war stark von dem Gedanken der Arbeitsverpflichtung eines jeden arbeitsfähigen Menschen geprägt. Ziel jeder Armenhilfe war es, allen Arbeitsfähigen – mit Zwang und Hilfe, in offenen oder geschlossenen Einrichtungen – zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit zu verhelfen. Seit der Eröffnung der Georg-August-Universität im Jahre 1739 bot Göttingen einen besonders attraktiven Zufluchtsort für arbeitsuchende Menschen, die sich von der aufstrebenden Stadt ein besseres Leben erhofften. Insbesondere die Brüder Ludwig Gerhard und Arndt Heinrich Wagemann haben im 18. Jahrhundert mit Mühe und Energie für die Weiterentwicklung der Armenpflege in Form eines „Werkhauses“ in Göttingen eingesetzt. Organisiert wurde die Armenfürsorge der Stadt von einer Armendeputation, die im Auftrag des Magistrats die Arbeit der Armenpfleger übersah und für die Zinanzierung sorgte. Neben Spenden der Bürger kamen die Mittel aus der Stadtkasse. 1818/19 wurde das alte, zu klein gewordene Werkhaus aus dem 18. Jahrhundert durch ein modernes Arbeitshaus ersetzt, das zwei Ziele hatte, nämlich „für freiwillige Arbeiter […] Raum, Werkzeuge und Materialien“ zu schaffen und gleichzeitig „Zwangsarbeiter“ unterzubringen (Saalfeld, 1820 S. 592). Jenen Armen etwa, die von der Stadt in Klein-Paris untergebracht waren, fehlte der Raum für kleinhandwerkliche Tätigkeiten völlig. Das „Werkhaus“ bot zudem als geschlossene Armenfürsorge eine Institution, die neben der Ausgabe von Hilfsgütern, eine Unterkunft für zeitgenössisch als arbeitsscheu, liederlich, trunksüchtig und bettelnd beschriebene Menschen darstellte. Im Unterschied zur offenen Armenfürsorge, bei der Arme finanzielle Unterstützung erhielten, wurden also auch jene Menschen aufgenommen, deren Armut aus Sicht der Stadtbürger als „selbstverschuldet“ galt (z.B. durch Alkoholsucht). Kranke sowie verlassene Arme fanden in der Institution Kost, Lager sowie ärztliche Betreuung. Die Entscheidung einer Aufnahme in das Haus verlief überwiegend nach subjektiven Kriterien der Verwalter. Für viele Jahre trug der Pastor an St. Marien (1788- 1851) Carl Heinrich Miede die Verantwortung für das Armenhaus (Böhme 2002, S. 567).

Durch die Arbeitserträge der Insassen finanzierte sich das Armen-Arbeitshaus weitestgehend selbstständig und war somit unabhängig von staatlicher Unterstützung. Hinzu kamen Spenden und Wohltätigkeitsaktivitäten von Bürger/innen (siehe Frauenverein). Im Jahr 1876 konnte sogar ein Überschuss erreicht werden und ein großes Abendessen stattfinden (Schallmann 2004, S.32).

Pflichten und Abläufe

Die Aufnahme in das Armen- Arbeitshaus war für viele Menschen eine Alternative zum (illegalen) Leben auf der Straße und wurde – so die bürgerlichen Quellen aus dem 19. Jahrhundert – dankend aufgenommen. Das Leben in der Anstalt bedeutet aber auch strikte Befolgung der Hausordnung. Diese setzte Reinlichkeit und gutes Benehmen als oberste Prioritäten. Mit dem Eintritt verpflichtete man sich zur täglichen Arbeit sowie zur Anerkennung der Disziplinargewalt des aufsichtführenden Senators. Besondere Aufsicht über den Tagesablauf sowie die Bedürfnisse der Armen wurde von sogenannten „Armenfreunden und -freundinnen“ übernommen, deren Beobachtungen und Nachrichten mit dem „kleinen Kollegium“ des Magistrats geteilt wurden (Marx 1824, S.302).

Die Hausordnung galt auch für die in der Institution lebenden Kinder, die darüber hinaus zum Schulbesuch aufgefordert wurden. Offiziell konnten die Bewohner des Hauses keinen unmittelbaren Pflichten unterworfen werden, jedoch zeigen Berichte über die Zustände, dass strengste Kontrolle und Zwang an der Tagesordnung waren. Die Insassen waren an einen strikten Arbeitsablauf gebunden. Der Arbeitstag begann morgens um 5 Uhr (im Winter teilweise um 6 Uhr) und endete frühestens um 19 Uhr. Vor- und nachmittags durften die Arbeiter eine halbe Stunde Pause machen und für die Mittagszeit wurde ihnen eine längere Pause gewährt. Um 21 Uhr wurde mit einer Glocke die Schlafenszeit angekündigt und es sollte absolute Ruhe im Haus herrschen. Zu den täglichen Aufgaben gehörte Holz zerkleinern, Matten flechten, Spinnen, Stricken, Nähen und Tagelöhnerarbeit (teilweise auch außerhalb des Hauses). Auch mittellose Wanderer durften gegen Holzarbeit im Arbeitshaus nächtigen. Im selben Haus befand sich auch die sogenannte „Zwangs- Arbeitsanstalt“, deren max. 15 Insassen von den anderen Bewohnern getrennt waren und ebenso über die Armen-Deputation unterstützt wurden. (Schallmann 2004, S.33. Marx 1824, S.302).

Plan der Armenanstalt in Hamburg

Plan der Armenanstalt in Hamburg, aus: Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege 1 (1789), S. 398-399.

Zustände

Trotz Hausordnung gelang es oft nicht, Konflikte unter den Bewohner/innen zu vermeiden und für genügen Sauberkeit zu sorgen; obwohl Insassen auf Krankheiten und Parasiten untersucht wurden „wimmelten die Kleider, auf der Haut haftete so viel Schmutz, dass ärztliche Untersuchungen nötig waren“ (zit. nach: Schallmann 2004, S.33). Zudem äußerte sich das Zusammenleben auf engstem Raum zu Streit, der häufig in offener Gewalt ausgetragen wurden. Kontrollpflicht, Reinlichkeitsprinzip und Arbeitszwang waren wohl die Hauptgründe, die für eine angespannte Atmosphäre im Haus sorgten. Bei vorzeitigem Austritt oder Verstoß gegen die Hausregeln war die Stadt Göttingen berechtigt, den Bedürftigen jegliche weitere Fürsorge zu entziehen.

Ab dem 10.01.1911 wurde das Grundstück in der Angerstraße als Wanderarbeitsstätte genutzt und  für die nächsten Jahre ehemalige Insassen und Wanderarbeiter lebten unter einem Dach. Die Auflösung des ursprünglichen Armen-Arbeitshauses deutet auf die zunehmende Kommunalisierung und Entprivatisierung sozialpolitischer Maßnahmen hin (Schallmann 2004, S. 34).

Literatur
Hammann, Konrad (2002): Geschichte der evangelischen Kirche in Göttingen (ca. 1650-1866), in: Ernst Böhme und Dietrich Denecke, Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen: Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866), Göttingen, S. 525-586.

Marx, Karl F.H. (1824), Goettingen in medicinischer, physischer und historischer Hinsicht geschildert, Göttingen.  Link: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN638480337

Saalfeld, Friedrich (1820), Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, Dritter Teil 1788-1820, Hannover.

Schallmann, Jürgen (2004), Das System der kommunalen Armenfürsorge in Göttingen 1871- 1914, Göttingen.

Die „Herberge zur Heimath“

Christliche Armenfürsorge mit Hang zur Kontrolle?

von Johanna Mencke

Am Leinekanal 2 ist heute ein Altenheim zufinden. Im 19. Jahrhundert jedoch diente die Fürsorge einer anderen Bevölkerungsgruppe als den Senioren, nämlich jungen Handwerkern auf Wanderschaft. Als „Herberge zur Heimath“ fungierte das Gebäude lange Zeit als Teil der protestantischen Armenfürsorge Göttingens, die wandernden Handwerkern ein Obdach gewährte.

Die Brüder Grimm, die Zeit ihres Lebens in Göttingen lebten, überlieferten uns das idealisierte Bild eines jungen Mannes auf Wanderschaft im 19. Jahrhundert: Hans im Glück. Doch in der Realität sah dies das ganz anders aus – Wanderer hatten mit Elend, Armut und Obdachlosigkeit zu kämpfen. Einen Einblick in das Leben und Wohnen der jungen Handwerker von damals ermöglicht die „Herberge zur Heimath“. Bevor auf das Gebäude direkt eingegangen werden kann, müssen grundlegende Tendenzen erläutert werden, die das Handwerk im 19. Jahrhundert maßgeblich verändert haben und erst zur Notwendigkeit einer solchen Herberge geführt haben.

Die Einführung der Gewerbefreiheit und die Erosion der Zunftordnung bedeutete sukzessiv das Ende der Sozialform des „ganzen Hauses“, einer „Arbeits-und Lebensgemeinschaft der Gesellen und ihrer Meister im meisterlichen Haushalt“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 23). Den Gesellen fehlte also ein Obdach und sie waren während ihrer Wanderung, die lange Zeit Voraussetzung für die Meisterprüfung war, auf Hilfe angewiesen. In den Augen des christlichen Bürgertums führte der ökonimische Wandel zu einem „sittlich-moralischen Niedergang des Wandergesellentums“, denn die Meister konnten nicht wie vorher neben der Wissensvermittlung auch für die Bewahrung vor unsittlichem Verhalten und eine christliche Erziehung sorgen. Ort ebendieser sittlichen Verwilderung waren nach Überzeugung von Staat und Bürgertum auf Grund von schlechten Zuständen, Alkohol, Glücksspiel und Überbelegung so genannte „wilde“ Herbergen, das heißt Möglichkeiten der Unterkunft und Verpflegung in Zunft- und Gewerksherbergen. (Schmuhl/Winkler 2009, S. 20-24). Schließlich wandten sich Männer aus dem Milieu des erweckten Protestantismus dem Problem zu. Eine Besserung der Verhältnisse sollte durch eine Reorganisation der Gesellschaft unter den Schlagworten „Zucht“, „Gehorsam“, „Glaube“ und „Gottesfurcht“ stattfinden (Schmuhl/Winkler 2009, S .21-22).

Das Konzept der „Herbergen zur Heimath als Alternative zu den „wilden Herbergen

Auch Clemens Theodor Perthes (1809 – 1867), Bonner Stadtverordneter und Mitglied der städtischen Armenverwaltung, sah die „wilden“ Herbergen als Gefahr für das Allgemeinwohl. 1849 war er an der Gründung eines Lokalvereins für Innere Mission beteiligt, der sich der fürsorgerischen Tätigkeit für wandernde Handwerksgesellen annehmen wollte. Im Zuge dieser Arbeit gründete er die erste „Herberge zur Heimath“ 1854 in Bonn. Das für diese Herberge entwickelte Konzept hatte das Ziel die wandernden Gesellen durch ein sauberes Bett, Verpflegung und Möglichkeiten zur Körper- und Kleiderpflege vor der Verwahrlosung zu schützen. Die restriktive Hausordnung, die jede „Herberge zur Heimath“ hatte, resultierte aus der Annahme, dass die individuelle Not der Wanderer eine Folge moralischen Versagens sei. So „nahm die gut gemeinte diakonische Hilfe einen patriarchal-erzieherischen Charakter an“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 37). Die Herberge sollte offen für jede Glaubensrichtung sein und vor Versuchungen wie „Alkohol, Müßiggang, Glücksspiel, Prostitution und homosexuellen Kontakten“ bewahren. Außerdem sollte der Strom der Wanderer allmählich von den „wilden“ Herbergen weggelenkt werden (Schmuhl/Winkler 2009, S. 32-34).

Wanderarbeitsstätten für zahlungsunfähige Wanderer

Da „Herbergen zur Heimath“ nur zahlende Gäste aufnehmen konnten, wurden flächendeckend Naturalpflegestationen gegründet, die später in Wanderarbeitsstätten (ab 1911 auch in Göttingen)
umbenannt wurden, um auch die nicht zahlungsfähigen Armen unterstützen zu können. Die Arbeitsstätten boten Mittellosen die Gelegenheit, sich durch diverse Arbeiten Kost und Logis für eine Nacht zu verdienen, bevor sie wieder weiterwandern mussten. Diese temporären Schutzräume, die Erziehungseinrichtungen ähnelten, folgten dem Prinzip „Arbeiten statt Almosen“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 41).

Da die Stadt Göttingen auf einer der vorgeschriebenen Wanderstraßen lag, wurde sie von auffällig vielen Wanderarmen durchreist, alleine 1898 waren es 2100 Reisende. 1886 machten die wandernden Tischler und Dachdecker sogar die Hälfte der in Göttingen ansässigen Handwerker ebendieser Bereiche aus.

Die „Herberge zur Heimath“ in Göttingen

Das Konzept der Herberge zur Heimat gewann im Laufe der Jahre über Bonn hinaus an Popularität, sodass auch in anderen Städten Herbergen gegründet wurden. Gab es 1874 in 98 deutschen Städten und Gemeinden „Herbergen zur Heimath“, so stieg deren Anzahl bis 1890 bereits auf 362.

Bei einer Versammlung von interessierten Bürgern Göttingens zur Errichtung einer „Herberge zur Heimath“, entstand am 07.02.1872 ein Verein für die Gründung einer solchen Herberge. Am 24.02.1880 eröffnet schließlich die „Herberge zur Heimath“ im alten Schulhaus St. Johannis. Da schon am ersten Abend 13 Schlafgäste verzeichnet wurden, überraschte es nicht, dass das Gebäude schnell zu klein wurde.

Hofer: Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen 1879.

Hofer (1879): Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen.

Am 08.11.1889 wurde der Neubau am Leinekanal 2 eingeweiht. Die  Grundlagen des Konzeptes von Perthes finden sich auch in der Hausordnung der „Herberge zur Heimath“ in Göttingen wieder: Neben Alkohol waren Glücksspiel und Vandalismus strengstens verboten.

1912 wurde der erste Stock des Gebäudes als christliches Hospiz eingerichtet, um die Finanzierung zu sichern. Im August 1914 wurden außerdem 50 Betten als Lazarett zur Verfügung gestellt. Seit 1952 wird die ehemalige „Herberge zur Heimath“ am Leinekanal 2 als Altenheim genutzt und seit 1964 vom Diakonischen Werk Göttingen e.V.  getragen (Robrecht-Krause 1992, S. 4-18).

Während also die Herbergen zur Heimat für zahlungsfähige Gesellen auf Wanderschaft gedacht waren, richtete man Wanderarbeitsstätten für mittellose Wanderarme ein. Zusätzlich gab es Arbeiterkolonien für nicht oder schwer vermittelbare Arbeiter. Diese Vielfalt und starke Auffächerung zeigt eine starke Expansion und Ausdifferenzierung der protestantischen Armenfürsorge für die wandernden Bedürftigen seit der Gründung der ersten Herberge zur Heimat im Jahr 1854. Ebendiese Vielfalt an Möglichkeiten zur Fürsorge hatte für viele Menschen die Folge, das Wandern als eine Art „Lebensberuf“ zu ergreifen, eine Tendenz, die man ursprünglich hatte verhindern wollen (Schmuhl/Winkler 2009, S. 42/51).

Stand: 30.01.2013

Literatur

Robrecht-Krause, Elsbeth (1992), Göttingen Am Leinekanal 2. Herberge zur Heimat – Mädchenheim – Altenheim. 100 Jahre Leben und Wirken in einem Haus, Göttingen.

von Saldern, Adelheid (1973), Vom Einwohner zum Bürger. Zur Emanzipation der städtischen Unterschicht Göttingens 1890-1920. Eine sozial-und kommunalhistorische Untersuchung, Berlin.

von Saldern, Adelheid (1984), Auf dem Wege zum Arbeiter-Reformismus. Parteialltag in sozialdemokratischer Provinz Göttingen (1870-1920), Frankfurt.

Schmuhl, Hans-Walter/ Winkler, Ulrike (2009), Das Evangelische Perthes-Werk. Vom Fachverband für Wandererfürsorge zum 
diakonischen Unternehmen
, Bielefeld.

Quellen

Hofer (1879): Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen.