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Die städtische höhere Töchterschule

von Svenja Dehler

Das heutige Hainberg-Gymnasium in Göttingen blickt auf eine knapp 150-jährige Schulgeschichte zurück, die 1866 mit der Einrichtung einer städtischen höheren Töchterschule begann. Die Gründung der Schule war ein Meilenstein in der öffentlich organisierten Mädchenbildung in Göttingen. Insbesondere für Töchter aus gutbürgerlichen Familien von Professoren und Lehrern war die Schule vorgesehen.

Vorgeschichte

Im Jahr 1806 kam es in Göttingen zur Gründung der ersten öffentlichen Töchterschule, auch Universitäts-Töchterschule genannt. Johann Philipp Trefurt, ein Göttinger Theologe und Superintendent der Stadt, hatte das Anliegen, die Bildung junger, bürgerlicher Mädchen zu fördern. Seine Schule musste ohne staatliche Zuschüsse auskommen. Stattdessen wurden Unterhaltungskosten und Personalausgaben mit Hilfe von Schulgeldern finanziert. Dieses erste organisierte Institut mit ausgebildeten Lehrkräften legte den Grundstein für zukünftige Projekte zur Mädchenbildung. Einige Jahre nach Trefurt eröffnete Friedrich Schwerdfeger 1843 das ebenfalls mit Schulgeldern finanzierte Institut Schwerdfeger. Der Bedarf an Mädchenschulen zu der Zeit war enorm hoch. Innerhalb der ersten Jahre waren es bereits etwa 130 Schülerinnen, die in der Einrichtung Schwerdfeger lernten und die Zahlen stiegen weiter. In den Jahren zwischen 1843 und 1866 gab es noch weitere Privatschulen für Mädchen, die jedoch oftmals nicht den besten Ruf hatten und in denen die Bildung mittelmäßig war (Spieker 1990, S. 13-16, 34-39).

Die städtische höhere Töchterschule

In Göttingen gab es lange Zeit kein geregeltes Mädchenschulwesen. Dies ist verwunderlich aufgrund der vielen, an der Universität angestellten Professoren und Lehrern, die ihren Töchtern eine angemessene Ausbildung bieten wollten. Erst nach langem Nichtstun und Hinnehmen der Situation mobilisierten sich die Eltern und forderten 1865 vom Magistrat die Gründung einer mittleren und höheren Bürger- und Töchterschule. Erst nach einer erneuten Petition Ende des gleichen Jahres wurde eine Kommission berufen, die ein Konzept für eine Mädchenschule ausarbeitete. Erstaunlich schnell gab der Magistrat dem Antrag statt und übernahm die Forderungen unverändert. 1866 konnte schließlich der Unterricht an der Schule, die sich an der Ecke Ritterplan und Jüdenstraße befand, beginnen.

Städtische Höhere Mädchenschule in der Jüdenstraße 38-39, Juni 1972.

Ehem. städtische Höhere Mädchenschule in der Jüdenstraße 38-39, Juni 1972.

Wie bereits an den anderen Bildungseinrichtungen musste auch an der städtischen höheren Töchterschule Schulgeld bezahlt werden. Allerdings gab es, im Unterschied zu den vorherigen Institutionen, eine finanzielle Förderung seitens des Staates. Die Zahlen entwickelten sich positiv: Bis 1879 gab es acht Klassen mit insgesamt 185 Schülerinnen zwischen sechs und 16 Jahren, acht Lehrer und zwei Hilfskräfte. Innerhalb von 15 Jahren stieg die Zahl der Schülerinnen auf 298 an. Um der Menge an Mädchen gerecht zu werden reichte das Schulgebäude im Ritterplan 8 bald nicht mehr aus. 1880 wurde ein neues Gebäude an der Ecke Nikolaistraße/ Bürgerstraße gebaut (heute Bonifatius-Schule II). Nach Fertigstellung siedelte die gesamte Schulgemeinde in das neue Gebäude über. Der Erfolg der Schule setzte sich weiter fort: 1909 wurde die Schule zum Lyceum erklärt. Auch die Anzahl der Schülerinnen stieg stetig. Der Bedarf an mehr Platz nahm weiter zu und so wurde 1911 im Friedländer Weg 19-23 (heutiges Hainberg-Gymnasium) ein neues Gebäude errichtet. Im Jahr 1927 konnten erstmals 16 Schülerinnen am Hainberg–Gymnasium die Reifeprüfung ablegen. Trotz dieser positiven Entwicklung erhielt die Schule erst 1957 den Status eines Gymnasiums. 1971 kam es zu einer weiteren Veränderung: Zum ersten Mal wurden auch Jungen aufgenommen (Spieker 1990, S. 43-46).

Friedländer Weg 19 001 Städtisches Lyzeum. Einweihung 19.5.1913.

Städtisches Lyzeum, im Friedländer Weg 19. Einweihung 19.5.1913.

Ein verändertes Familien- und Eheverhältnis

Durch das erweiterte Bildungsangebot für Mädchen kam es zu Wandlungen des Frauenbildes in der Ehe und Familie. Lange Zeit hatten Frauen die Pflichten und Aufgaben einer Mutter und Hausfrau zu erfüllen, die ihrem Ehemann unterstellt war. Dieses Bild veränderte sich mit den vielfältigeren Bildungsmöglichkeiten, die Frauen geboten wurden. Anhand der Göttingerin Dorothea Schlözer, die als erste Frau in Deutschland 1787 die Doktorwürde erhielt, lassen sich die Fortschritte und Veränderungen innerhalb der Familie sowie zwischen den Ehepartnern darstellen. Schlözer konnte nur durch die intensive Förderung ihres Vaters, der gewettet hatte, dass auch Frauen zum „Denken geschaffen“ seien, eine universitäre Ausbildung an der Göttinger Universität genießen. Nach erfolgreichem Abschluss des „Erziehungsexperiments“ durfte Dorothea, aufgrund der damaligen Regeln, nicht an den Feierlichkeiten zur Verleihung des Doktortitels teilnehmen (Koerner 1989, S. 132-135).

Trotz eines Doktortitels in Philosophie und einer umfangreichen, für die Zeit außergewöhnlichen Bildung, hielt Dorothea Schlözer an dem traditionellen Ehebild fest. Es stand außer Frage, dass sie heiraten und eine Familie gründen würde. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, sah sie sich nicht in der Position einer Hausfrau und eine dem Mann unterstellten Ehefrau gebunden. Vielmehr wollte sie ihrem Ehemann eine „Gefährtin und Gehilfin“ sein, die zum Einkommenserwerb der Familie beitrug.

Auch wenn Dorothea Schlözer lange Zeit vor der Gründung der städtischen höheren Töchterschule gelebt und gewirkt hat, waren ihre Ansichten zum Familien- und Eheverständnis neu und herausragend für ihre Zeit. Ihr Bild von der Beziehung zwischen Mann und Frau innerhalb der Familie war revolutionär (Koerner 1989, S. 132-135). Nur wenige Jahre danach etablierte sich dieses Bild in vielen Familien, in denen Mädchen und Frauen die neuen Möglichkeiten einer schulischen Ausbildung genießen konnten (Habermas 2000, S. 232-242). Im späten 19. Jahrhundert schließlich übernahmen bürgerliche Frauen zunehmend Aufgaben in der öffentlichen Wohlfahrt (siehe Frauenverein) und ergriffen Lehr- und Pflegeberufe (siehe Diakonie).

Literaturverzeichnis:

Spieker, Ira (1990): Bürgerliche Mädchen im 19. Jahrhundert, Erziehung und Bildung in Göttingen 1806-1866, Göttingen.

Habermas, Rebekka (2000): Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen.

Koerner, Marianne (1989): Auf die Spur gekommen. Frauengeschichte in Göttingen, Weigang/ Neustadt.

Der Frauenverein zu Göttingen

Von Ann-Christin Lembke

In Zusammenarbeit mit der städtischen Einrichtung der Armendeputation gelang es den engagierten Mitgliedern des Frauenvereins zu Göttingen, sich und ihre Vereinstätigkeit ab dem Jahr 1840 als wichtigen Bestandteil der Göttinger Armenpflege zu etablieren. Durch großzügige Spenden, auf die der Verein bis zu seiner Schließung 1956 angewiesen bleiben sollte, konnte im Jahr 1842 schließlich das Haus „Neustadt 12“ erworben werden. Die neuen Räumlichkeiten wurden nicht nur für Lager- und Verwaltungszwecke genutzt, auch eine Kochanstalt, eine Dienstbotenschule, eine Näherei, eine Spinnerei, sowie eine Kleinkinderschule fanden Platz in dem stattlichen Gebäude (Weber-Reich 1993, S. 31f.). Die ursprünglichen Vorstadthäuser der Straße Neustadt wurden nach und nach durch großflächige Wohnhäuser ersetzt. Auch das Haus des Frauenvereins wurde überbaut.

Das Wirksamwerden der Frauen im Zeichen „christlicher Liebesthätigkeit“

Neben zahlreichen anderen Frauenvereinen deutscher Städte gründete sich auch der Verein der Göttinger Frauen unter dem Vorsatz „christlicher Liebesthätigkeit“ (Weber-Reich 1989, S. 1). Dieser spezielle Begriff appellierte vor allem an die Tugenden der christlichen und bürgerlichen Frau des 19. Jahrhunderts. Praktisch umgesetzt werden konnten dieses Prinzipen, indem man die Bedürftigen der Heimatstadt unterstützte (Weber-Reich 1989, S.19). Allerdings stand die Vereinsarbeit an sich nie im direkten Zusammenhang zur Kirche; vielmehr sollte der Beitrag der Frauen als öffentliche Anteilnahme an der Verbesserung des Soziallebens der Stadt Göttingen verstanden werden (Weber-Reich 1989, S. 28).

Die Form der Hilfestellung, die durch diese Art von Unterstützungstätigkeit gewährleistet werden sollte, gliederte sich in einen öffentlichen und in einen privaten Teil. Während der öffentliche Part die Grundversorgung, wie zum Beispiel die Speisung bedürftiger Personen beinhaltete, trug der private Part zu einer Weiterentwicklung der individuellen Armenpflege bei. Hier standen nicht „die Armen“ in ihrer gesamten Masse im Fokus, sondern die aktive Notminderung für einzelne Personen und Familien. Dies bedeutete beispielsweise Unterschichtangehörigen zu helfen, eine „würdige Berufstätigkeit“ zu erlangen, auch Frauen (Weber-Reich 1989, S.19).

Das große Interesse und die Aktionsbereitschaft der Frauen trugen dazu bei, dass bereits bei der ersten Zusammenkunft am 1. März 1840 vorläufige Statuten des Frauenvereins (Quelle 1) festgelegt wurden. Hierbei wurden folgende Vorhaben angestrebt:

1. Die Versorgung Kranker und Schwacher mit warmer Speise.
2. Die Beschäftigung armer Frauenzimmer durch weibliche Handarbeiten.
3. Das Streben, verarmten Handwerkern und Tagelöhnern Arbeit und Kunden zu verschaffen.
4. Die Erziehung Armer Mädchen für den Dienstbotenstand.
5. Die Errichtung einer Verwahrschule für arme Kinder.
6. Die Sammlung von Kleidungsstücken für arme.

Die leitenden Grundsätze (Quelle 2) hierbei waren:

„Im Einklang mit der Armenverwaltung [zu] wirken, vorzugsweise nur würdige arme unterstützen [und] in der Regel nicht durch baares [sic] Geld, sondern durch Gelegenheit zum Verdienste und Verschaffen nothwendiger [sic] Lebensbedürfnisse [zu] helfen“.

„Edle Frauen und Töchter Göttingens gründen einen Verein“ (Weber-Reich 1989, S. 24)

Ziele und Arbeitswege des Vereins waren schnell gefunden. Die Umsetzung der Pläne, der direkte Kontakt zu den Armen und die Arbeit mit ihnen gestaltete sich jedoch aufgrund der Unerfahrenheit der Frauen auf dem Gebiet der Armenfürsorge anfänglich schwierig (Weber-Reich 1989, S. 31). Nicht nur die Statuten erforderten nach und nach einige Aktualisierungen, auch die Deutungsmuster und Denkweisen der Vereinsfrauen mussten sich einer aufklärerischen Generalüberholung unterziehen. So war einer der großen Unterschiede zwischen dem Frauenverein und der Armendeputation Göttingens, dass letztere gesetzlich dazu verpflichtet war, alle Armen zu unterstützen. Wie aus den oben genannten Leitgrundsätzen von 1842 hervorgeht, zog es der Frauenverein allerdings vor, seine Hilfe nur den „würdigen“ Armen zu Teil werden zu lassen (Weber-Reich 1989, S. 23, 26). (Für weitere Abzweigungen im Bereich der Armenfürsorge siehe auch St. Michaelis – Die katholische Gemeinde und ihre Armenfürsorge.)

„Würdig“ waren in diesem Sinne beispielsweise Kranke, Alte, Verwitwete, Kinderreiche, Verwaiste, Verlassene und nur zeitweise Arbeitslose. Sprich solche Arme, die vermeintlich unverschuldet in ihre missliche Lage geraten waren und eben nicht jene, die aufgrund ihres angeblich verschwenderischen Lebensstils selbst für ihre Armut verantwortlich gemacht wurden (Weber-Reich 1989, S. 30-32).
Der Kontakt und die direkte Beschäftigung der bürgerlichen Frauen der Mittel- und Oberschicht mit den Armen ihrer Stadt ließ das eingefahrene Bild der Armut als Teil der „göttlichen Ordnung“ in den Köpfen der Frauen jedoch rasch erschüttern (Weber-Reich 1989, S. 32). Durch die wöchentlichen Besuche der Helferinnen konnte eine persönliche Beziehung zu den Bedürftigen aufgebaut werden und die Vereinsfrauen lernten immer mehr über die individuellen Schicksale und Verarmungsursachen der zu Pflegenden. Folge dieser Erkenntnis war, dass nun auch Arme, die sich als vertrauenswürdig erwiesen, in die Obhut der Vereinsfrauen aufgenommen wurden (Weber-Reich 1989, S.33).

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Foto: Vereinshaus Neustadt 12, Archivfoto des städtischen Museums Göttingen

Die Mitglieder des Frauenvereins – Von der Ehefrau zur Ausbilderin

Betrachtet man die soziale Herkunft der Mitglieder des Frauenvereins, so erklärt sich ihr anfängliches Verhalten gegenüber „selbstverschuldet“ Armen. Beschränkte sich der Zuständigkeitsbereich der „rechtschaffenden und ordentlichen“ Frauen zunächst auf den sozialen Spielraum ihrer Väter, Familien oder Ehemänner, so verschafften sie sich durch den Vereinseintritt ihr eigenes Wirkungsfeld und einen selbstständigen Tätigkeitsbereich, losgelöst von dem Personenkreis des Umfeldes ihrer Männer (Weber-Reich 1989, S. 29-31). Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass ein Großteil der Vereinsfrauen mit Professoren der Universität verheiratet war. Im Hinblick auf die Finanzierung des Vereins über Spenden und Veranstaltungen zu seinen Gunsten ist der Beitrag der Ehemänner und der Universität nicht außer Acht zu lassen (Weber-Reich 1989, S. 10).
Doch die Frauen blühten in ihren neuen Aufgaben auf und der Verein entwickelte sich zu einer fest etablierten Instanz des sozialen Lebens Göttingens. Obschon stets als Unterstützungsorgan der Armendeputation gedacht, schien die Arbeit für den Frauenverein so beflügelnd, dass die Mitgliederzahl noch im Gründungsjahr auf 242 stieg und die Arbeitszweige und Ziele des Vereins stark erweitert werden konnten. Viele Mitglieder sind sogar ohne Berufsbezeichnung ihres Mannes eingetragen, was die Position der Vereinsfrauen als selbstständige und tatkräftige Akteurinnen hervorhob (Weber-Reich 1989, S. 29).

Ein weiteres Novum fand sich außerdem in der Besetzung der Lehr- und Erziehungsstellen der „Schulanstalten zur Erziehung armer Kinder“ (Weber-Reich 1989, S. 33). Durch ihre meist von Haus aus guten Ausbildung in den weiblichen Handarbeitstätigkeiten und die eigenen Familienerfahrungen bezüglich der Arbeit mit Kindern gliederten sich die Frauen reibungslos in die Erziehungsarbeit ein und gewährleisteten so kostengünstige, da zumeist freiwillige Arbeitskraft. Die Frauen arbeiteten demnach nicht nur mit bereits ausgebildeten Lehrerinnen und Gehilfinnen zusammen, sie wurden teilweise selbst zu solchen (Weber-Reich 1989, S. 30f).
Dieser Schritt hin zur Emanzipation der Frauen führte in der Öffentlichkeit immer wieder zu dem Vorwurf, die Frau würde durch die Vereinsarbeit ihrer natürlichen Rolle entzogen (Weber-Reich 1989, S. 19). Die Erfolge ihres Engagements rechtfertigten diese Neuheiten jedoch nach und nach. (Zur Bildung und Ausbildung der Frauen im 19. Jahrhundert siehe auch: Die städtische höhere Töchterschule.)

Das Wirkungsfeld des Frauenvereins: Die acht Arbeitszweige

Beginnend mit der Versorgung der Armen mit warmer Speise und der Mitarbeit in der Familien- und Krankenpflege, gelang es den Vereinsfrauen die Arbeitszweige nach und nach um sechs Hauptzweige zu erweitern. Mit Erlangung des Vereinshauses in der Neustadt 12 (1842) wurden dem Verein eine Spinnerei, eine Stickerei, eine Weißnäherei, die Arbeit an der Kinder- und Mädchenfürsorge, eine Dienstbotenschule und eine Kleinkinderbewahranstalt angegliedert (Weber-Reich 1989, S.35). Aufgrund steter finanzieller und personeller Schwierigkeiten wurden in den folgenden Vereinsjahren keine weiteren Arbeitszweige hinzugefügt, stattdessen sollte die Arbeit in den vorhandenen Arbeitsbereichen intensiviert werden (Weber-Reich 1989, S.30).

Die finanziellen Schwierigkeiten, die den Frauenverein stets begleiteten, führten im Jahr 1956 schließlich zur Auflösung. Die von den Vereinsfrauen in die Wege geleiteten Schritte sollten jedoch nicht umsonst gewesen sein: Einzelne Arbeitszweige, wie die Armenküche und die Kinderbewahranstalt wurden vom Evangelischen Frauenbund übernommen und auch die Armendeputation übernahm einige Arbeitsweisen und Aufgabenbereiche in den eigenen Tätigkeitsbereich auf (Weber-Reich 1989, S. 2).

Stand: 30.01.2013

Literatur

Denecke, Dietrich/ Böhme, Ernst (1987): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt (Bd. 2), Göttingen.

Weber-Reich, Edeltraut (1989): Der Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Ein Beitrag zur Volkskundlichen Frauen-Vereinsforschung und zur Sozialgeschichte der Stadt Göttingen, unveröffentlichte Magisterarbeit, Göttingen.

Weber-Reich, Edeltraut (1993): „Um die Lage der hiesigen nothleidenden Classe zu verbessern“. Der Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen (Bd. 18), Göttingen.

Quellen

1) Vorläufige Vereinsstatuten vom 1. März 1840. § 22, StadtA Gö, Dep. 30/1.

2) Frauenverein zu Göttingen, Jahresbericht 1842, S. 4, StadtA Gö.

Die „Herberge zur Heimath“

Christliche Armenfürsorge mit Hang zur Kontrolle?

von Johanna Mencke

Am Leinekanal 2 ist heute ein Altenheim zufinden. Im 19. Jahrhundert jedoch diente die Fürsorge einer anderen Bevölkerungsgruppe als den Senioren, nämlich jungen Handwerkern auf Wanderschaft. Als „Herberge zur Heimath“ fungierte das Gebäude lange Zeit als Teil der protestantischen Armenfürsorge Göttingens, die wandernden Handwerkern ein Obdach gewährte.

Die Brüder Grimm, die Zeit ihres Lebens in Göttingen lebten, überlieferten uns das idealisierte Bild eines jungen Mannes auf Wanderschaft im 19. Jahrhundert: Hans im Glück. Doch in der Realität sah dies das ganz anders aus – Wanderer hatten mit Elend, Armut und Obdachlosigkeit zu kämpfen. Einen Einblick in das Leben und Wohnen der jungen Handwerker von damals ermöglicht die „Herberge zur Heimath“. Bevor auf das Gebäude direkt eingegangen werden kann, müssen grundlegende Tendenzen erläutert werden, die das Handwerk im 19. Jahrhundert maßgeblich verändert haben und erst zur Notwendigkeit einer solchen Herberge geführt haben.

Die Einführung der Gewerbefreiheit und die Erosion der Zunftordnung bedeutete sukzessiv das Ende der Sozialform des „ganzen Hauses“, einer „Arbeits-und Lebensgemeinschaft der Gesellen und ihrer Meister im meisterlichen Haushalt“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 23). Den Gesellen fehlte also ein Obdach und sie waren während ihrer Wanderung, die lange Zeit Voraussetzung für die Meisterprüfung war, auf Hilfe angewiesen. In den Augen des christlichen Bürgertums führte der ökonimische Wandel zu einem „sittlich-moralischen Niedergang des Wandergesellentums“, denn die Meister konnten nicht wie vorher neben der Wissensvermittlung auch für die Bewahrung vor unsittlichem Verhalten und eine christliche Erziehung sorgen. Ort ebendieser sittlichen Verwilderung waren nach Überzeugung von Staat und Bürgertum auf Grund von schlechten Zuständen, Alkohol, Glücksspiel und Überbelegung so genannte „wilde“ Herbergen, das heißt Möglichkeiten der Unterkunft und Verpflegung in Zunft- und Gewerksherbergen. (Schmuhl/Winkler 2009, S. 20-24). Schließlich wandten sich Männer aus dem Milieu des erweckten Protestantismus dem Problem zu. Eine Besserung der Verhältnisse sollte durch eine Reorganisation der Gesellschaft unter den Schlagworten „Zucht“, „Gehorsam“, „Glaube“ und „Gottesfurcht“ stattfinden (Schmuhl/Winkler 2009, S .21-22).

Das Konzept der „Herbergen zur Heimath als Alternative zu den „wilden Herbergen

Auch Clemens Theodor Perthes (1809 – 1867), Bonner Stadtverordneter und Mitglied der städtischen Armenverwaltung, sah die „wilden“ Herbergen als Gefahr für das Allgemeinwohl. 1849 war er an der Gründung eines Lokalvereins für Innere Mission beteiligt, der sich der fürsorgerischen Tätigkeit für wandernde Handwerksgesellen annehmen wollte. Im Zuge dieser Arbeit gründete er die erste „Herberge zur Heimath“ 1854 in Bonn. Das für diese Herberge entwickelte Konzept hatte das Ziel die wandernden Gesellen durch ein sauberes Bett, Verpflegung und Möglichkeiten zur Körper- und Kleiderpflege vor der Verwahrlosung zu schützen. Die restriktive Hausordnung, die jede „Herberge zur Heimath“ hatte, resultierte aus der Annahme, dass die individuelle Not der Wanderer eine Folge moralischen Versagens sei. So „nahm die gut gemeinte diakonische Hilfe einen patriarchal-erzieherischen Charakter an“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 37). Die Herberge sollte offen für jede Glaubensrichtung sein und vor Versuchungen wie „Alkohol, Müßiggang, Glücksspiel, Prostitution und homosexuellen Kontakten“ bewahren. Außerdem sollte der Strom der Wanderer allmählich von den „wilden“ Herbergen weggelenkt werden (Schmuhl/Winkler 2009, S. 32-34).

Wanderarbeitsstätten für zahlungsunfähige Wanderer

Da „Herbergen zur Heimath“ nur zahlende Gäste aufnehmen konnten, wurden flächendeckend Naturalpflegestationen gegründet, die später in Wanderarbeitsstätten (ab 1911 auch in Göttingen)
umbenannt wurden, um auch die nicht zahlungsfähigen Armen unterstützen zu können. Die Arbeitsstätten boten Mittellosen die Gelegenheit, sich durch diverse Arbeiten Kost und Logis für eine Nacht zu verdienen, bevor sie wieder weiterwandern mussten. Diese temporären Schutzräume, die Erziehungseinrichtungen ähnelten, folgten dem Prinzip „Arbeiten statt Almosen“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 41).

Da die Stadt Göttingen auf einer der vorgeschriebenen Wanderstraßen lag, wurde sie von auffällig vielen Wanderarmen durchreist, alleine 1898 waren es 2100 Reisende. 1886 machten die wandernden Tischler und Dachdecker sogar die Hälfte der in Göttingen ansässigen Handwerker ebendieser Bereiche aus.

Die „Herberge zur Heimath“ in Göttingen

Das Konzept der Herberge zur Heimat gewann im Laufe der Jahre über Bonn hinaus an Popularität, sodass auch in anderen Städten Herbergen gegründet wurden. Gab es 1874 in 98 deutschen Städten und Gemeinden „Herbergen zur Heimath“, so stieg deren Anzahl bis 1890 bereits auf 362.

Bei einer Versammlung von interessierten Bürgern Göttingens zur Errichtung einer „Herberge zur Heimath“, entstand am 07.02.1872 ein Verein für die Gründung einer solchen Herberge. Am 24.02.1880 eröffnet schließlich die „Herberge zur Heimath“ im alten Schulhaus St. Johannis. Da schon am ersten Abend 13 Schlafgäste verzeichnet wurden, überraschte es nicht, dass das Gebäude schnell zu klein wurde.

Hofer: Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen 1879.

Hofer (1879): Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen.

Am 08.11.1889 wurde der Neubau am Leinekanal 2 eingeweiht. Die  Grundlagen des Konzeptes von Perthes finden sich auch in der Hausordnung der „Herberge zur Heimath“ in Göttingen wieder: Neben Alkohol waren Glücksspiel und Vandalismus strengstens verboten.

1912 wurde der erste Stock des Gebäudes als christliches Hospiz eingerichtet, um die Finanzierung zu sichern. Im August 1914 wurden außerdem 50 Betten als Lazarett zur Verfügung gestellt. Seit 1952 wird die ehemalige „Herberge zur Heimath“ am Leinekanal 2 als Altenheim genutzt und seit 1964 vom Diakonischen Werk Göttingen e.V.  getragen (Robrecht-Krause 1992, S. 4-18).

Während also die Herbergen zur Heimat für zahlungsfähige Gesellen auf Wanderschaft gedacht waren, richtete man Wanderarbeitsstätten für mittellose Wanderarme ein. Zusätzlich gab es Arbeiterkolonien für nicht oder schwer vermittelbare Arbeiter. Diese Vielfalt und starke Auffächerung zeigt eine starke Expansion und Ausdifferenzierung der protestantischen Armenfürsorge für die wandernden Bedürftigen seit der Gründung der ersten Herberge zur Heimat im Jahr 1854. Ebendiese Vielfalt an Möglichkeiten zur Fürsorge hatte für viele Menschen die Folge, das Wandern als eine Art „Lebensberuf“ zu ergreifen, eine Tendenz, die man ursprünglich hatte verhindern wollen (Schmuhl/Winkler 2009, S. 42/51).

Stand: 30.01.2013

Literatur

Robrecht-Krause, Elsbeth (1992), Göttingen Am Leinekanal 2. Herberge zur Heimat – Mädchenheim – Altenheim. 100 Jahre Leben und Wirken in einem Haus, Göttingen.

von Saldern, Adelheid (1973), Vom Einwohner zum Bürger. Zur Emanzipation der städtischen Unterschicht Göttingens 1890-1920. Eine sozial-und kommunalhistorische Untersuchung, Berlin.

von Saldern, Adelheid (1984), Auf dem Wege zum Arbeiter-Reformismus. Parteialltag in sozialdemokratischer Provinz Göttingen (1870-1920), Frankfurt.

Schmuhl, Hans-Walter/ Winkler, Ulrike (2009), Das Evangelische Perthes-Werk. Vom Fachverband für Wandererfürsorge zum 
diakonischen Unternehmen
, Bielefeld.

Quellen

Hofer (1879): Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen.

Das Universitätswaisenhaus

Zwischen Aufklärung und Arbeitserziehung

von Larissa Klick

Heute wirkt das Gebäude „Untere-Masch-Straße 3“ am Westrand der Göttinger Innenstadt recht unscheinbar, wie eine der vielen als Wohnhaus genutzten Altbauten. Jedoch beherbergte es noch bis weit in die Weimarer Republik hinein eine Besonderheit, die die Göttinger Universität von anderen unterscheidet: Ein Waisenhaus, welches bis zu seiner Schließung der Theologischen Fakultät unterstellt war. Wie es zur Errichtung eines solch speziellen Hauses kam, inwiefern es sich von anderen Einrichtungen unterschied und wer die Kinder waren, die im Göttinger Universitätswaisenhaus aufwuchsen, soll im Folgenden erläutert werden.

Von der Armenschule zum Waisenhaus

Schon 1737, im Gründungsjahr der Universität, war in Göttingen eine Armenschule von dem begüterten Studenten Reichsgraf Heinrich XI. Reuß gestiftet worden. Die hannoversche, königliche Regierung übertrug daraufhin der theologischen Fakultät die Aufsicht der Schule und gab den Auftrag, die Kinder mit Hilfe „heilsamen Unterrichts“ (zit. nach Meumann 1997, S. 25/26) zu erziehen. Die Stiftung des Grafen geschah möglicherweise auf Betreiben seines pietistisch geprägten Erziehers Mühlenberg (Meumann 1997, S. 28-31). Die pietistische Erziehung von Armen war ein zentrales Projekt des in Halle tätigen August Herrmann Franckes (1663-1727), dessen Predigten zum Thema Nächstenliebe Anfang des 18. Jahrhunderts viel Beachtung geschenkt wurden. Franckes Konzept beeinflusste die Erziehung in der Armenfürsorge in anderen Städten. Ein erklärtes Ziel war es, Kinder aus verarmten Familien so früh wie möglich durch Disziplin zu einer Gemeinschaft mit Gott und anderen Christen bzw. weg von der Verwahrlosung zu führen (Kuhn 2003, S. 43-45).

Ein an die Armenschule gebundenes Haus für Waisen gab es seit 1743. Dort wurden sechs bis acht Jungen von einer Waisenmutter betreut und umsorgt. Der Bedarf war jedoch größer und nach einer weiteren Stiftung, diesmal von einem Adligen aus dem nahegelegenen Einbeck und einer weiteren königlichen Genehmigung, wurde ein großes Grundstück gekauft. Das Gebäude in der Unteren-Masch-Straße war 1750 bezugsfertig und schon 1751 lebten 22 Kinder in dem neuerrichteten Waisenhaus. Der Bau wurde finanziell durch private Großspenden von Göttingern und von auswärts, aber auch durch Kleinspenden, Sachspenden und unentgeltliche Leistungen von Bürgern unterstützt (Meumann 1997, S. 42-45). In den folgenden Jahren wurde so gewirtschaftet, dass das Waisenhaus fast autark haushielt. Die recht begüterte Institution blieb bis ins 20. Jahrhundert finanziell unabhängig und wurde durch regelmäßige Spenden unterstützt. Die theologische Fakultät war zwar Träger des Waisenhauses, jedoch hielt sich ihr Einfluss und finanzielle Unterstüztung in Grenzen (Meumann 1997, S. 48).

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Universitätsarchiv Göttingen

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Fotoarchiv der SUB Göttingen

Die Kinder des Waisenhauses

Schon vor der Errichtung waren die Rechte des Waisenhauses daran gekoppelt, dass man Bürgerkinder bei der Aufnahme bevorzugte. Das hatten die Räte der Stadt nach Verhandlungen mit der Fakultät, den Bürgervorstehern und Gildemeister als Bedingung für die Unterstützung des Hauses festlegt (Meumann 1997, S. 44). Die Versorgung und standesgerechte Erziehung jener war demnach auch das Ziel der Einrichtung. Jedoch entstand dadurch ein Konflikt, der in den nächsten Abschnitten noch erläutert wird.

Trotz weniger Zeugnisse über die Herkunft der Waisenkinder, ist bekannt, dass vielfach Kinder von Göttinger Witwen aufgenommen wurden. Der Vater entstammte oft einer Handwerkerfamilie, somit ursprünglich aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen, hatte jedoch dann in verarmten Verhältnissen gelebt. Kein Elternteil, falls einer noch lebte, und auch keine andere verwandte Person waren im Stande, die Kinder zu versorgen. Aufgenommen wurden ehelich gezeugte, bis 1840 ausschließlich evangelische Kinder aus Göttingen ab einem Alter von 6 Jahren, da die Säuglings- und Kleinkinderpflege zu kosten- und zeitintensiv war. Die Entlassung aus der Institution sollte nach der Konfirmation, später erst nach dem ersten Lehrjahr erfolgen (Meumann 1997, S. 75-77, 81). Die Zahl der bedürftigen Kinder ist viel höher einzuschätzen, als die die tatsächlich im Waisenhaus unterkamen, da die Aufnahmekriterien wie beschrieben streng waren.

Die Kinder zur Arbeit erziehen

In der Ständegesellschaft des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts waren die im Waisenhaus lebenden Kinder dazu bestimmt, später in den Stand ihrer zu meist verarmten Eltern zurückzukehren. Die Jungen sollten somit wieder Handwerkergesellen werden und die Mädchen später bis zu ihrer Hochzeit als Magd oder in der ansässigen Textilverarbeitung als Spinnerinnen arbeiten. Der Heimalltag bereitete sie insofern auf dieses Leben vor, als ein Pfeiler in der Heimerziehung des 18. Jahrhunderts die Erziehung zur Arbeit war. Die Waisenkinder hatten in ihrem Tagesablauf feste Arbeitsstunden integriert, in denen sie Aufgaben im Haus und in der heimeigenen Spinnerei wahrnahmen. Sie sollten dadurch an Arbeit gewöhnt werden, etwas zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen, aber auch auf diese Weise Gott dienen. Zu letzterem ist zu sagen, dass die Heranführung an ein religiöses Leben für die Erziehung besonders auch für die Heimerziehung dieser Zeit eine zentrale Rolle hatte. So wurden während der nachmittäglichen Arbeit auch Texte aus Sittenbüchern vorgelesen und besprochen (Meumann 1997, S. 62-64).

Die Waisenkinder zu kleinen Denkern machen?

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Eine schulische Erziehung als Vorbereitung auf das zukünftige Leben der Heimkinder schien aus den oben beschriebenen Erwartungen sinnvoll, musste aber nicht über eine primäre Bildung im Bereich des Schreibens, Lesens, Rechnens und etwas religiöser Schulung hinausgehen. Dennoch entstand ein Konflikt, wie die Bildung der Waisenkinder aussehen sollte. Einerseits definierte der Dekan der theologischen Fakultät Miller 1777 als Ziel, die Waisen zu „guten und glücklichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft“ (Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause 1777, 7) zu erziehen. Er wollte die Kinder im Universitätswaisenhaus Vernunft und eigenständiges Denken lehren. Die aufklärerischen Erziehungsansätze der Empfindsamkeit und des Philosophen John Locke (vgl. Locke 1708) sind in diesem Konzept wieder zu finden. Locke sah den Menschen als „ein unbeschriebenes Blatt“ (Lauer 2004, S. 20), der früh mit seiner eigenen Vernunft vertraut gemacht werden solle, um diese zu benutzen. Von den Anstaltslehrern, die manchmal selbst noch Studenten der Theologie waren, wurden sie nicht nur primär geschult, sondern auch Fächer wie Alt-Griechisch, Latein, Französisch sind in Stundenplänen und Prüfungsnotizen belegt. Auch wurde von Miller darum gebeten, ebenfalls Kalligraphie, Ökonomie und Naturwissenschaften zu lehren (Lauer 2004, S. 78-80). Die Waisenkinder hättem durch diese Ausbildung also das Rüstzeug zu einer Gelehrtenlaufbahn bekommen. In der Realität war das jedoch nicht der Fall.

Es setzte sich die schon früher vom vorigen Dekan Leß geäußerte Meinung durch, dass die Ständegesellschaft nicht „vieler nützlicher Glieder beraubt“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3) werden dürfe. Leß fürchtete, dass Handwerkers- und Bauernsöhne sich nach allzuviel humanistischer Bildung zu viel Wissen und Gelehrsamkeit angeeignet hätten: Sie würden sich dann vielleicht nicht wieder in die Gesellschaft einfügen und an ihrer Stelle müssten ihnen gesellschaftlich überlegende Personen „niedere Arbeiten“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3). Die Meinung Leß‘ und das standespolitische Bewusstsein setzten sich auch in der theologischen Fakultät durch. Die Kinder wurden aus Kostengründen im frühen 19. Jahrhundert auf die Pfarrschule der Marienkirche geschickt (Meumann 1997, S. 64). Somit wurden sie schulisch wie andere Gleichaltrige unterer Schichten gebildet.

Veränderungen im 19. Jahrhundert

Es wurde nun Wert darauf gelegt, den Waisenkindern neben der religiösen Prägung, vor allen Dingen handwerkliches Geschick mitzugeben. So bekamen die Mädchen ab 1840 nachmittags Handarbeitsunterricht von Helferinnen des Frauenvereins und die Jungen hatten vor dem Abendessen Sporteinheiten. Der Arbeitsdienst der Waisenkinder betrug nicht mehr wie in der frühen Phase des Hauses sechs bis sieben sondern drei Stunden. Es wurden nur noch Arbeiten im Haus verlangt, aber nicht mehr für die ansässigen Textilbetriebe und die Waisen hatten zwei bis drei Stunden freie Zeit (Meumann 1997, S. 65/66). Trotzdem war das Leben in einem Waisenhaus auch im 19. Jahrhundert durch einen streng geregelten Tagesablauf bestimmt. Es kam auch hier zu Fällen der Mangelernährung und sexuellen Übergriffen. Trotz verbesserten Hygienebedingungen waren Krankheiten an der Tagesordnung (Meumann 1997, S. 70-72). Waisenkinder waren zudem oft Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen, so gestaltete sich die Suche nach einer Lehrstelle oft schwierig (Meumann 1997, S. 69).

Die Zukunft der Waisenkinder

Die Jungen und Mädchen des Waisenhauses gingen nach ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus meistens der oben beschriebenen, ihrer Herkunft gemäßen Tätigkeit nach. Ein sozialer Aufstieg war für die ehemaligen Heimkinder nicht zu erwarten. In Einzelfällen wurden besonders begabte Jungen des Waisenhauses an ein Lehrerseminar vermittelt und auch finanziell unterstützt. Es ist nur vom Fall Georg Wilhelm Schulze bekannt, der eine Hochschullaufbahn einschlug, promovierte und ein beachteter Theologe und Schriftsteller wurde (Meumann 1997, S. 81-85).

Fazit

Das Waisenhaus war durch die Trägerschaft der Universität zwar eine Besonderheit. Jedoch hatten die Kinder im Vergleich zu anderen Waisenhäusern keine besseren Zukunftschancen. Das Ideal der Erziehung von Mitgliedern der „bürgerlichen Gesellschaft“ wurde zusehends weniger verfolgt und die meisten Kinder kamen nach ihrem Aufenthalt in diesem Haus wieder in ein oft verarmtes Umfeld zurück.

Stand: 31.01.2013

Literatur

Kuhn, Thomas (2003): Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen (=Beiträge zur historischen Theologie 122).

Lauer, Gerhard (2004): Rousseaus Kinder. Als die Kinderbücher laufen lernten, in: Nützliches Vergnügen. Kinder- und Jugendbücher der Aufklärungszeit aus dem Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Vordemann-Sammlung [Katalog zur Ausstellung in der Paulinerkirche Göttingen, vom 5. 12. 2004 – 20. 2. 2005], Göttingen.

Locke, John (1708), Unterricht von Erziehung der Kinder, Leipzig.

Meumann, Markus (1997): Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus. Das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, Göttingen.

Quellen

„Die neun und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1777.

„Die fünf und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1773.

Link

Nachricht von dem Göttingischen Waisenhause im Netz:

http://vd18.de/de-sub-vd18/periodical/titleinfo/21278950 (zuletzt eingesehen am 10.1.2013)