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Diakonie in Göttingen – Krankenpflege und Mission

von Stefanie Schneider

Im 19. Jahrhundert wurden in Deutschland christliche Schwesternschaften gegründet, die Krankenpflege und Glauben miteinander verbanden. Als erstes wurden deutsche Soldaten auf die selbstlose Pflege durch katholische Schwestern in französischen Lazaretten aufmerksam – und 1866 war es auch in Göttingen soweit: Zwei protestantische Diakonissen wurden aus Hannover entsannt, um die Armen und Bedürftigen rund um die Uhr zu pflegen, da öffentliche Einrichtungen der Lage nicht mehr Herr wurden. Wie erfolgreich die Schwestern mit Zuwendung und Gesangbuch waren, lässt sich noch heute in Göttingen erkennen: Die Einrichtungen Alt-Bethlehem und Neu-Bethlehem, die für die Diakonie erbaut wurden gibt es noch heute, und sie werben noch immer mit dem Ziel „[f]ortschrittliche Medizin und exzellente Pflege mit christlichen Werten zu verbinden.“[1]

Christliche Ideale und die Rolle der Frau

Im 19. Jahrhundert wurde die Armenfürsorge für die bürgerliche Öffentlichkeit immer mehr zum Thema. Private Verbände und Vereine leisteten auch in der Krankenpflege materielle, finanzielle und personelle Unterstützung (Schmidt 1998, S. 26).  Frauenvereine unterstützten so auch Diakonissen indem sie Wohnungen und Verpflegung stellten. Pflegerinnen waren hoch angesehen und vor allem schwer zu bekommen (Weber-Reich 1999, S. 27). Ihre Rolle wurde zudem im 19. Jahrhundert stark idealisiert. Einige Leibildgeschichten aus der damaligen Zeit betonen, wie enorm groß die Bedeutung selbstloser Pflegerinnen war und lobten die „Jungfrauen“, die ihr Leben der Krankenpflege widmeten: „Wunderbar ist es anzusehen, was eine junge Dame ausrichten kann, wenn sie fest auf Jesum blickt“ (nach: Köser 2006, S. 339 – 340). Damit sollten natürlich auch medizinische Zweifel an christlicher Krankenpflege abgebaut werden. Vorreiter auf dem Gebiet christlicher Krankenfürsorge war hier die katholische Kirche: Kriegsgefangene und Soldaten in Frankreich berichteten von „Barmherzigen Schwestern“, die selbstlose Pflege der Verwundeten katholischen Glaubens und soziales Engagement auf beeindruckende Weise miteinander verbanden (Schmidt 1998, S. 29). In Deutschland gab es wenige solcher Pflegegenossenschaften. Aber sie wurden im 19. Jahrhundert verstärkt gegründet, und auch in Göttingen waren die Katholiken schneller (St. Michaelis). Schon bald nahm die evangelische Kirche auch in Göttingen die Barmherzigen Schwestern zum Vorbild und man überlegte, diese „Diakonissensache“, die sich langsam in Deutschland etablierte auch in Göttingen für die evangelische Kirche einzuführen (Weber-Reich 1999, S. 35).

Besonders die evangelische Erweckungsbewegung trieb die Bemühungen um Diakonissen voran. Sie erinnerten an die Verantwortung der Christen gegenüber ihren Mitmenschen und warben für Nächstenliebe und Güte gegenüber Armen und Bedürftigen (Weber-Reich 1999, S. 30).  So war die Hauptaufgabe der Diakonissen die Pflege der Kranken, und zwar ohne darauf zu achten, wo sie herkamen und wie viel sie besaßen (Weber-Reich 2004, S. 210). Auch die Missionierung war ein wichtiger Teil dieser christlichen Fürsorge. Der bürgerliche Protestantismus des 19. Jahrhunderts nahm eine fortschreitende Entchristlichung unter den einfachen Leuten wahr, der man mit der vorbildlichen Hingabe der Diakonissinnen entgegenwirken wollte. So lautete die Instruktion, dass der Kranke mit allen Mitteln gepflegt werden mussten, aber vor allem den Kindern mit Bibel und Gesangbuch beigestanden werden sollte (Weber-Reich 1999, S. 53-54). Beide Aufgabenfelder hatte die Diakonisse als Dienerin zu erledigen. Als Frau unterstand sie auf der einen Seiter dem Pastor, und auf der anderen Seite dem Arzt (Weber-Reich 1999, S. 42). Sie war zudem auch die Dienerin der Kranken, und sollte sie ohne Vorbehalte und ohne Rücksicht auf eigene Bedürfnisse pflegen.

Diese Philosophie lässt sich am eindeutigsten an den Arbeitsbedingungen erkennen. Die Diakonissinnen hatten fast täglich Hausbesuche und Nachtwachen in den Wohnungen der Armen zu leisten. Zwangsläufig ergab sich ein enger Kontakt zu den Kranken, da sie sie wuschen, fütterten, mit ihnen beteten und ihnen bis zum Tod beistanden. Auch in Göttingen erkrankten viele Schwestern an Typhus, doch da Erkenntnisse über Bakteriologie und Hygiene fehlten, machte man Gott für den Schutz der Diakonissinnen verantwortlich (Weber-Reich 1999, S. 47).

Alt-Bethlehem in Göttingen

In Göttingen entschloss man sich 1866 dazu, Diakonissen zu engagieren. Die Kirchenvorstandsmitglieger wählten aus ihren eigenen Reihen ein Komitee, dass die Arbeit der zwei aus dem Henriettenstift in Hannover angeforderten Diakonissen verwalten sollte (Weber-Reich 1999, S. 39). Der Vertrag, der Tätigkeitsfeld der Schwestern festlegte, wurde am 23.04.1866 unterzeichnet. Ein Mitspracherecht hatten die zwei Pflegerinnen allerdings nicht, da die Inhalte des Vertrages nicht mit ihnen abgesprochen wurden und auch keine je an den Sitzungen des Komitees teilnehmen durfte (Schmidt 1998, S. 213). Ein Gehalt erhielten sie zwar nicht, aber für Unterhalt wurde durch Spenden gesorgt, zu denen öffentlich im Göttinger Wochen- und Tageblatt aufgerufen wurde. Auch die nötigen Mittel für den Pflegedienst der Diakonissen wurde rein aus Spenden finanziert (Schmidt 1998, S. 210). Bevor die Diakonie als Station eröffnet wurde, bot der Göttinger Frauenverein den Diakonissen eine Wohnung in der Neustadt 12 an, in der sie unentgeltlich wohnen konnten (Weber-Reich 2004, S. 212). Im ersten Jahr gingen 76 Anträge aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten bei den Schwestern ein. Hauptsächlich handelte es sich bei den Patienten um Typhuskranke, deren Pflege intensivste Krankenbeobachtung erforderte (Weber-Reich 1999, S. 52). Alle Ausscheidungen mussten entfernt, Kleidung und Bettwäsche desinfiziert werden. Wickel und Umschläge sollten das Fieber und die Schmerzen lindern und Mundpflege den Geruch eindämmen. Durch diesen engen Kontakt infizierten sich die Pflegerinnen regelmäßig, sodass ein reger Wechsel im Personal herrschte.

Da die katholischen Schwestern Göttingens eine feste Station zur Verfügung hatten, wollte der evangelische Kirchenvorstand auch den evangelischen Diakonissen die Arbeit erleichtern und entschloss sich 1868 ein Haus für diese Zwecke zu bauen. Die Vorsteherin des Frauenvereins stiftete den Bauplatz in der Oberen Karspüle. 1870 wurde Alt-Bethlehem eröffnet. Es verfügte über 2 Krankenzimmer mit je 6 Betten, einen Saal, 2 Kammern, einen Baderaum, eine Küche und 2 Stuben für die Diakonissen (Weber-Reich 1999, S. 56–60). Auf der Station wurden viele Kinder aufgenommen, die an Skrofulose litten, also durch fehlerhafte Ernährung und eine unsaubere Umgebung erkrankt waren und ein erhöhtes Typhusrisiko hatten (Weber-Reich 1999, S. 65). Aus dem geplanten Kinderhospital wurde jedoch bald eher ein Kinderheim, da die Universität Göttingen der Diakonie keine geregelte ärztliche Versorgung zugestand – die Pädiatrie war noch ein neues Feld in der Medizin, und man fürchtete Konkurrenz (Weber-Reich 1999, S. 66–69). Neben den Kindern wuchs jedoch die Zahl der erwachsenen Patienten/innen stetig. So kamen allein 1871 104 Patienten/innen mit allerlei Beschwerden wie Scharlach, „Kopfgeschwür“, Rheuma und „Gemüthskrankheit“ zu den zwei Pflegerinnen. Erfreulicherweise starben weniger als 30 Patienten/innen und 63 konnten vollständig genesen (Weber-Reich 1999, S. 64).

Aufgrund des hohen Bedarfs wurde die Diakonie im Jahr 1880 um ein Gartenhäuschen erweitert, das als Kinderkrippe diente. Mit der Entwicklung der Medizin stand die kleine Diakonie jedoch immer wieder vor neuen Anforderungen. So wurde 1887 ein Operationssaal in Alt-Bethlehem eröffnet, was der Anstalt langsam den Charakter eines Privatkrankenhauses verlieh (Weber-Reich 1999, S, 82). Die Kinderstation gab es weiterhin, allerdings wurde im Obergeschoss der Klinik nun postoperative Pflege nach chirurgischen Eingriffen geleistet, die Ärzte der Universität an ihren Privatpatienten vornahmen (Weber-Reich 1999, S. 82f.). Am 9. Juli 1896 wurde deshalb der Betrieb von Neu-Bethlehem aufgenommen, denn noch immer wurde Alt-Bethlehem auch von Patienten/innen aus sehr armen Verhältnissen überrannt. Der Anteil von Langzeitpatienten/innen vor allem bei den Kindern stieg weiter an, sodass bald vom „Kinderheim“ Alt-Bethlehem die Rede war. Die Schwestern klagten in Briefen regelmäßig über die überfüllte Anstalt, und darüber, dass auch Fürsorge und Hygiene unter der räumlichen Enge litten. Schließlich wurde um 1900 das Nachbargrundstück erworben. Alt-Bethlehem wurde erweitertund den Kindern konnten mehr Platz und bessere Lebensumstände geboten werden (Weber-Reich 1999, S. 98).

Alt- und Neu-Bethlehem im 20. Jahrhundert

Ende des 19CCF29012013_00000. Jahrhunderts wurde das Krankenhaus „Neu-Bethlehem“ eröffnet. Der Neubau wurde im Kirchweg 8 errichtet. Er war größer als Alt-Bethlehem und wurde nicht mehr von einer Hausmutter geführt, sondern von einem Arzt (Weber-Reich 1999, S. 119). Allerdings kamen die Schwestern nach wie vor vom Henriettenstift Hannover. Am 19.06.1896 wurde das Privatkrankenhaus für Frauen eingeweiht. Die Patientinnen waren überwiegend wohlhabende Damen, die sich nicht von noch auszubildenden Ärzten in der Uniklinik behandeln lassen wollten (Weber-Reich 1999, S. 120). Im 20. Jahrhundert wurde Neu-Bethlehem ausgebaut. In Kriegszeiten wurde es zum Lazarett umgewandelt.

Die behandelnden Diakonissen standen vermehrt in der Kritik, da ihre Ausbildung den Anforderungen im Krankenhausbetrieb immer weniger entsprach. Die Universitätsklinik nahm Neu-Bethlehem für verschiedenste Fachrichtungen als Ausweichstation in Anspruch, sodass auch „freie“ Schwestern eingestellt wurden, um den Bedarf zu decken (Weber-Reich 1999, S. 145f). Doch seitens der Patienten/innen und Ärzte gingen wiederholt Beschwerden über die Ober- und vor allem OP-Schwestern ein, die teilweise vor Arbeitsantritt noch nie einen OP betreten hatten (Weber-Reich 1999, S. 148 ff). 1926 wurden Reformen eingeleitet, die die Ausbildung der Diakonissen verbesserten und sie mit mehr theoretischem medizinischen Fachwissen und praktischer Ausbildung ausstatteten (Weber-Reich 1999, S. 150). Alt-Bethlehem hingegen stellte den Krankenhausbetrieb offiziell ein und wurde 1931 zu einem Altenheim. 14 Damen des gehobenen Mittelstandes lebten während der NS-Zeit im „Damenstift“. Auf dem Nachbargrundstück befand sich „Klein Bethlehem“ in der Karspüle 24, das bis dato ein Frauenheim war. Auch dieses Gebäude wurde zum Altenheim, mit Platz für zehn Senioren (Weber-Reich 1999, S. 172 f). Die Diakonissen blieben in Alt- und Neu-Bethlehem bis in die 1960er Jahre präsent. Da Nachwuchs fehlte, verließ die letzte Schwester 1967 Alt-Bethlehem und übergab den Pflegedienst freien Schwestern (Weber-Reich 1999, S. 227).

Literatur

Köser, Silke (2006): Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein: kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836 – 1914, Erfurt.

Schmidt, Jutta (1998): Beruf: Schwester: Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main.

Weber-Reich, Traudel (1999): Pflegen und Heilen in Göttingen: Die Diakonissenanstalt Betlehem von 1866 – 1966, Göttingen.

Weber-Reich, Traudel (2003): „Wir sind die Pionierinnen der Pflege“: Krankenschwestern und ihre Pflegestätten im 19. Jahrhundert am Beispiel Göttingen, Göttingen.

Das Grätzelhaus – Pallas Athene und Hermes in Göttingen

von Boris Schuster

Der imposante und größte Barockbau der Stadt wurde ab 1739 errichtet.​ Seitdem hat er viele Veränderungen der Göttinger Sozialgeschichte miterlebt, aber das Haus existiert noch immer in der Goethe-Allee 8. Heute beherbergt es die Gaststätten „Mr. Jones“ und „Kartoffelhaus“.

Das Grätzelhaus 2012, Fotographie von Jan Stubenitzky

Das Grätzelhaus 2012, Fotographie von Jan Stubenitzky

Erbaut wurde das Grätzelhaus von Johann Heinrich Grätzel, der ab 1736 der reichste Mann Göttingens und später „Obercommerzien Commissarius“ war. Er besaß noch zwölf weitere Häuser, Unterkünfte und Produktionsstätten für seine Tuchmanufaktur. Damit stand er an der Spitze der Honoratiorenschicht dieser Zeit (Sachse 1987, S.180ff.).

Pallas Athene und Hermes

Um sein Haus erbauen zu können, ließ er die „Güldene Straße“ trocken legen. Die beeindruckende Hauptfassade, die dort entstand, ist in sechzehn Fensterachsen über fünf Etagen unterteilt und das erst 1746 fertig gestellte, mit zwei Doppelsäulen und Wappenschmuck verzierte, Sandsteinportal markiert den Eingang des pompösen Hauses. Der Wappenschmuck des Portals zeigt rechts das Hauswappen und links das Emblem der Naturforscherakademie. Das Portal wird  auf dem Dachgiebel von zwei Statuen der griechischen Mythologie flankiert. Auf der einen Seite befindet sich Athene, der Schutzgöttin der Künste und Wissenschaften.

Das alte Grätzelhaus. Von Georg Daniel Heumann um 1740

Das alte Grätzelhaus. Von Georg Daniel Heumann um 1740

Sie stellte, kurz nach der Eröffnung der Georg August Universität 1737, ein klares Symbol für die in den folgenden Jahrhunderten wichtigste, soziale Ader der Stadt dar. Auf der anderen Seite steht Hermes, der in der hellenistischen Welt den Handel verkörpert. Für Johann Heinrich Grätzel waren der Handel und die Tuchmanufaktur die Quelle seines Reichtums und er rief dafür den symbolischen Schutz des griechischen Gottes an. Außerdem ließ er zwölf Knabenstatuen fertigen, die für die sechs Sinne und sechs freien Künste standen und im Garten des Hauses platziert wurden (Girod 2009, S.12f.; Koch 1958, S.115f.).

Familien-Dynastie Grätzel entsteht

Leisten konnte sich Johann Heinrich Grätzel (I) diese Lebensweise nicht von Geburt an. Als er 1691 in Dresden geboren wurde, war sein Vater vermutlich „Director der Manufacturen“.

Wappen (Meyermann 1904, Tafel 8, 180)

Wappen (Meyermann 1904, Tafel 8, 180)

Darüber welchen Reichtum die Familie besaß, kann nur spekuliert werden. Als wahrscheinlich gilt, dass der Vater nicht viele Mittel besaß und Grätzel eine Ausbildung als Waid- und Kunstfärber begann. Ab 1712 arbeitete er in einer Göttinger Tuchfabrik, weshalb ihm 1716 das Bürgerrecht verliehen wurde. Von Anfang an bemühte sich der Neubürger um Steuerfreiheit und staatliche Hilfen. Dies ermöglichte ihm, sich ein kleines Haus in der Mariengemeinde zu kaufen und dort zwei Zeugmacher einzustellen. Zusätzlich richtete er sich einen kleinen Verkaufsladen ein und machte so erste Schritte in Richtung Selbstständigkeit. Mit der staatlichen Unterstützung von fünfhundert Talern und dem Auftrag durch die Regierung Truppen mit Tüchern zu versorgen, konnte er in der Folgezeit elf Arbeiter unterhalten und sich  über die städtischen Grenzen hinaus etablieren (Koch 1958, S. 98-108).

Mit der Eröffnung der Universität 1737 erschloss sich Grätzel ein neues Klientel: Er stellte sich gut mit der universitären Obrigkeit, richtete Häuser für Studenten her und propagierte so seine Nähe zur Wissenschaft. 1739 arbeiteten bereits 158 Personen für ihn und seine Manufaktur erlebte in der Folge ihre Blütezeit. Als Kurfürst Georg August die Universität und Grätzels Fabrik 1748 besuchte, verlieh er ihm den Titel des „Obercommerzien Commissarius“. Diese guten Verbindungen zum Hof ermöglichten es ihm, sich gegen seine Konkurrenz in Göttingen durchzusetzen, da er dazu privilegiert war bestimmte Waren herzustellen. Im Grätzelhaus waren zu dieser Zeit drei kurhessische Prinzen für ihr Studium untergebracht. Erfolg, Reichtum und Ehre von Johann Heinrich Grätzel standen so in direkter Abhängigkeit zum Hof (Koch 1958, S. 110-134).

Siebenjähriger Krieg und Niedergang der Fabrik

Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) veranlasste Grätzel dazu, aus dem von Franzosen besetzten Göttingen zu fliehen. Da er den Betrieb in der Stadt nicht aufrecht erhalten konnte, gerieten die Tuchlieferungen für die Regimenter ins Stocken. Zu dieser Zeit wurde das Grätzelhaus von dem französischen Prinzen de Soubise bewohnt. Erst 1762 konnte Grätzel in sein Haus zurückkehren. Wieder erbat er eine staatliche Unterstützung von 3000 Talern, doch das Wohlwollen ihm gegenüber schwand und erst nachdem er seine Fabrik instand gesetzt hatte, wurden ihm seine Privilegien erneut zugesprochen. Zu einer neuen Blütezeit konnte seine Manufaktur aber nicht geführt werden. 1770 starb Grätzel, woraufhin seine Söhne die Verleihung eines Adelstitels beantragten, der ihnen mit „Grätzel von Grätz“ zugesprochen wurde. Das Erbe des Grätzelhauserbauers verursachte jedoch Streit zwischen zweien seiner drei Söhne um die Leitung der Fabrik. Der älteste Sohn nahm die Position des Vaters in Anspruch und fand den Jüngsten finanziell ab. Trotz Arbeitermangel und Absatzkrise gelang es Grätzel (II) die Geschäfte am Laufen zu halten. Er beschäftigte am Ende des 18. Jahrhunderts wieder über 300 Personen in der nun größten und ältesten Fabrik im Kurfürstentum Hannover. Auch ihm wurde der Titel des „Obercommerzien Comissarius“ durch König Georg III. verliehen. Dieser kurze Aufschwung war jedoch nicht von Dauer, weil Grätzel der aktuellen Mode nicht nachging und immer wieder in Streit mit der Regierung geriet.

Grätzelhaus um 1890 von einem unbekannten Fotographen.

Grätzelhaus um 1890 von einem unbekannten Fotographen.

So übernahm Grätzel (III) nach dem Tod seines Vaters (II) 1820 einen Betrieb, der kaum noch zu retten war. Denn die Hilfen, die die Regierung seinem Großvater (I) gewährt hatte, forderte der Staat nun zurück. Außerdem gab es einen neuen Konkurrenten, den Färber Eberwein, der Grätzels Privilegien mit der Produktion in Duderstadt umging. 1846 musste Grätzel (III) schließlich den Konkurs der Firma anmelden, der mit dem der Verkauf aller Gebäude außer dem Grätzelhaus einherging. Die Fabrikanten Levin und Böhme kauften den Betrieb auf und nahmen so den Platz der Familie Grätzel in Göttingen ein (Koch 1958, S. 152-228).

Weg in die Moderne

Nachdem Grätzel (III) 1860 verstarb, war Auguste Grätzel die letzte Bewohnerin der Familie im Haus. Sie vermietete das Gebäude an acht weitere Haushalte, was ihr Einkünfte bescherte, die für ein sehr gutes Leben ausreichten. Zu dieser Zeit lebte im Grätzelhaus unter anderem Rudolf Winkel, der die feinoptische Industrie in Göttingen einführte und später mit Carl Zeiss fusionierte. Somit wurde das Haus indirekt zum Schnittpunkt der alten und neuen Industrie. 1891 verkaufte Auguste Grätzel den Barockbau schließlich an einen Klavierfabrikanten. Später war in ihm erst das Café National (1897) und im 20sten Jahrhundert das Stadtkaffee untergebracht. Nun sind es die Gaststätten „Mr. Jones“ und „Kartoffelhaus“. Heute erinnert vor allem die Grätzelstraße an den Namen der Familie Grätzel in Göttingen.Teile der Inneneinrichtung des Hauses sind im Stadtarchiv ausgestellt (Sachse 1987, S. 180f.; Koch 1958, S. 220f.; van Kempen 1953, S. 66; Tamke 1997, S. 54).

Literatur:

Behrendsen, Otto (Hg.) (1900): Die mechanischen Werkstätten der Stadt Göttingen. Ihre Geschichte und ihre gegenwärtige Einrichtung, Hannover.

Girod, Sonja (2009): Ausgegraben! Göttinger Stadtgeschichte von 1600 bis 1800 im Spiegel neuer archäologischer Funde. Eine Ausstellung des Städtischen Museums Göttingen und der Stadtarchäologie Göttingen, Göttingen.

Koch, Diether (1958): Das Göttinger Honoratiorentum. Vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung der ersten Göttinger Unternehmer, Göttingen.

Meyermann, Georg (1904): Göttinger Hausmarken und Familienwappen. Nach den Siegeln des Göttinger städtischen Archivs, Göttingen.

Sachse, Wieland (1987): Göttingen im 18. und 19. Jahrhundert. Zur Bevölkerungs- und Sozialstruktur einer deutschen Universitätsstadt, Göttingen.

Stadt Göttingen (Hg.) (1987): Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht, Göttingen.

Tamke, Georg (1997): Göttinger Straßennamen nach Familien, Bürgern und Personen, Göttingen (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göttingen / Stadtarchiv, Göttingen).

van Kempen, Wilhelm (1953): Göttinger Chronik, Göttingen.

Wellenreuther, Hermann (1988): Göttingen 1690-1755. Studien zur Sozialgeschichte einer Stadt, Göttingen.

Weblinks:

Wikipedia Grätzelhaus

Die Lokhalle

von Sebastian Wolfram Hennies

Die Maschinenwerkstatt bzw. Ausbesserungwerk der Eisenbahn nahm seit der Gründung 1855 im Leben vieler Göttinger eine wichtige Rolle ein. Das noch heute vorhandene und 1917-1920 erbaute Hauptgebäude, die Lokrichthalle, ist seit der öffentlichen Debatte um die Nachnutzung als „Lokhalle“ bekannt. Neben der Universität war die Eisenbahn bis 1976 einer der stabilsten und  wichtigsten Arbeitgeber.

Vorbemerkungen

Es beschäftigte überwiegend männliche Arbeiter. Nur zu Kriegszeiten, vor allem im zweiten Weltkrieg, kamen Frauen in die Lokhalle und halfen den Mangel an Arbeitern auszugleichen. Ihre Rolle soll auf keinen Fall gering geschätzt werden, jedoch ist sie für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert nicht von größerer Bedeutung und damit auch nicht für diesen Text, da dieser die Zeit von 1855 – ungefähr Anfang des 20. Jahrhunderts behandelt. Ich verzichte daher auf ein durchgehendes gendering der Begriffe.

Die Quellenlage zur Lokhalle ist insgesamt dünn. Zwar gibt es einige moderne Werke zur Lokhalle, jedoch gehen diese nur bedingt auf die Zeit vor 1900 ein und beleuchten zudem die Arbeiterkultur wenig bzw. gar nicht. Günther Siedbürger macht auf die Quellenlage aufmerksam und verweist unter anderem auf eine Notiz, die er während der Archivrecherche fand: „Akte NStA (Niedersächsisches Staatshauptarchiv) Hann 133 acc. 30/82, Nr. 6 (…) „Göttingen. Werkstätten. Vernichtet im Jahre 1972“. Während der Arbeit an seinem Buch nahm laut eigenen Aussagen die Archivarbeit den größten Teil ein. So konnte er viele Fakten sammeln und in seinem Werk darstellen. Auf seinem Buch und den darin präsentierten Ergebnisse basiert dieser Text.

Reichsbahnausbesserungswerke

Mit der Entstehung der Eisenbahn in Deutschland im Jahre 1835 wurden zur Ausbesserung und Instandhaltung der Lokomotiven und Wagen kleine bahneigene Werkstätten als Reparaturstellen eingerichtet. Mit der Erweiterung des Eisenbahnnetzes und der damit verbundenen notwendigen Vergrößerung des Fahrzeugparkes sind die Eisenbahnwerkstätten für eine planmäßige Erhaltungswirtschaft ausgebaut worden. Sie nahmen in der Folgezeit immer mehr den Charakter von Reparaturwerkstätten mit einer bestimmten Organisation und Arbeitsteilung an. Reichsbahnausbesserungswerke waren ab den 1920er Jahren technische Großbetriebe, deren Aufgabe in der wirtschaftlichen Unterhaltung der Betriebsmittel der Deutschen Reichsbahn bestand. Die Geschichte aller  Werke zeigt, dass die Städte und Territorien nichts unversucht ließen, ein solches Werk in ihren Mauern zu besitzen. Die gesicherte Stellung der Beschäftigten bei der Deutschen Reichsbahn wirkte sich sowohl kulturell als auch wirtschaftlich auf die Stadt, die Geschäftswelt und die Schulen aus.

Lokhalle heute von Nordost; Quelle: Wikimedia Commons, GNU Free Documentation License

Lokhalle heute von Nordost; Quelle: Wikimedia Commons, GNU Free Documentation License

Die Lokhalle in Göttingen

Wahrscheinlich 1855 wurde die Göttinger Lokhalle eröffnet. Einen genauen Beleg gibt es dafür nicht. Sie gehörte damals und bis 1914 zum größten (Staats)Unternehmen der Welt: Der preußisch-hessischen Staatseisenbahn. Bei ihrer Gründung hieß sie „Maschinenwerkstatt“ und war verhältnismäßig klein. Sie bestand bei ihrer Gründung 1855 aus Lokomotivhalle, Schmiede, Tischlerei, Wagenwerkstatt, Radsatzwerkstatt, zwei Schiebebühnen, Verwaltungsgebäude, Kesselhaus mit Dampfmaschine, mit welcher über Transmissionsriemen die Maschinen in der mechanischen Fertigung angetrieben wurden. Später wurde sich in „Ausbesserungswerkstatt“ umbenannt. Es kamen bis 1892 hinzu: Stofflager, Werkzeugmachere, Schlosserei, eine zweite Lokhalle, Tenderwerkstatt, Gelbgießerei, Kupferschmiede, Klempnerei und eine neue Halle für die Wagenausbesserung. Erst mit dem Ende des 20. Jahrhundert kam der Begriff „Lokhalle“ in Berührung mit dem Gebäude, welches in der heutigen Bahnhofsallee in Göttingen anzufinden ist. Die Halle „Lokhalle“, die heute noch zu sehen ist, ist ein großer Teil des Gesamten Komplexes und wurde 1917 erbaut. Entscheidend für diese Position außerhalb der Stadt waren im Wesentlichen drei Faktoren. Einerseits stand in unmittelbarer Nähe der Bahnhof, der 1855 eröffnet wurde und wohl auch den ausschlaggebendsten Faktor darstellt. Nicht unerheblich war auch die Größe des Grundstücks, das man nur außerhalb der Innenstadt finden konnte. Andererseits gab es auch die preußische Bestimmung, dass sich Ausbesserungswerke abgelegen von Wohngebieten und viel befahrenen Straßen befinden mussten. Der enorme Geräuschpegel, der in den Hallen vorherrschte, wäre für die Umgebung zur Dauerbelastung geworden.

Mehr Loks, mehr Arbeiter. Die Entwicklung.

In der Lokhalle wurden vor allem Reparatur- und Wartungsarbeiten verrichtet. Lediglich die Teile für die Reparatur wurden in der Kesselschmiede hergestellt. Schon im 19. Jahrhundert gab es verbindliche Vorschriften, die bei Lokomotiven alle 6 Jahre eine Hauptuntersuchung und alle 3 Jahre eine Zwischenuntersuchung vorsahen. Bei Unfällen oder Ähnlichem wurden die Loks sofort repariert. Aber nicht nur Loks wurden repariert und gewartet, auch Weichen und Gleiswagen wurden unter die Lupe genommen. Göttingen war auf Grund seiner geografisch-politischen Lage ein wichtiger Anlaufpunkt für die Eisenbahn. König Ernst August wollte keine Bahntrasse durch Hessen und so führte er die Hannoversche Südbahn von Göttingen die steile Strecke über Dransfeld nach Hannoversch Münden. Dazu mussten stärkere Loks vor die Wagons gespannt werden. Die ausgespannten Loks wurden so in Göttingen gleich gewartet. Die Göttinger Lokhallen-Arbeiter hatten damit reichlich zu tun. Von 1847 bis 1914 stieg die Zahl der Lokomotiven der Eisenbahndirektion Hannover von 42 auf ca. 1500 Loks an. Gleichzeitig wuchsen auch die Belegschaft und die Anforderungen. Wahrscheinlich sind diese Entwicklungen dem erhöhten Transportaufkommen im Zuge der steigenden Zahl an Überseeexporten, die über Bremerhaven abgewickelt wurden, geschuldet. Zahlen zum Beschäftigtenstand finden sich bis 1868. Vereinzelt auch noch in den 1890ziger Jahren. Zu beobachten ist jedoch zwischen 1860 und 1870, dass sich die Belegschaftszahl fast verdreifachte. 1855 war man noch mit ungefähr 60 Mitarbeitern gestartet. 1870 knackte man schon die 300-Mitarbeiter-Marke und kam 1900 bei 500 an.

Arbeitssituation. Kontrolle, Arbeitszeit und Lohn.

Gearbeitet wurde im Gedingverfahren, welches eine Form der Akkordarbeit war. Dabei wurde der Arbeitsprozess in Abschnitte unterteilt und auf Kolonnen aufgeteilt. Auch die maximal benötigte Zeit für die Aufgabe und die Anzahl der zu schaffenden Aufgaben wurde von einem unteren Beamten eingeteilt. Für die Wirtschafter bedeutete die Gedingarbeit eine Ersparnis an den Löhnen und höhere Produktivität. Für die Arbeiter, die in einer 20 Personen umfassenden Kolonne arbeiteten, brachte dies enormen Zeitdruck, geringere Grundlöhne und schlechtere Arbeitsbedingungen. Dabei war ihr Arbeitsalltag geprägt von Lärm und Schmutz. Arbeitssicherheit gab es zu damaliger Zeit nicht. Viele Arbeiten, wie das Vernieten des Heizkessels, gingen mit einer immensen akustischen Belastung einher. Die unmittelbar beteiligten Arbeiter büßten so in kürzester Zeit den Großteil ihrer Hörfähigkeit ein. Auch die geringe Beleuchtung der Halle stellte ein großes Risiko dar. Zwar waren die Hallen überdacht, dies bot Witterungsschutz, ließ aber kaum Licht ins Innere.  So gab es viele offene Gasglühlampen. Kleinere Öllampen spendeten etwas Licht bei Arbeiten unter den Loks. Nicht zuletzt durch die Gedingarbeit und weitere Umstände (Lärm und Licht) waren die Arbeitsbedingungen schlecht. Auch die Ausstattung war anscheinend nicht immer dem damaligen Standard entsprechend. So beschrieb ein Arbeiter 1904 den Prozess des Hochwindens einer Lok:  „Das Hochwinden der Lok erfolgte durch 4 – 6 Windeblöcke mit Handkurbeln, von 16-24 Personen, in 1 ½ Stunden (…) Für Reparatur von heißgelaufenen Achslagern waren in jeder Abteilung 2 Gleise mit Senkkanal verfügbar. Das Heben und Senken der Achsen erfolgte in der neuen Bude hydraulisch, in der alten Bude mit Handkurbelwerk, die 1910 durch hydraulische ersetzt wurde.“ (Siedbürger 1995, S. 23) Tatsächlich dauerte wohl das Hochwinden wesentlich länger als hier beschrieben: „Ein Arbeiter erzählte, ihm habe sich als Kind der Satz seines von der Arbeit im Werk heimkommenden Vaters eingeprägt: ‚Heute haben wir wieder eine Lok hochgezogen!’“. (Siedbürger 1995, S. 23)

Gearbeitet wurde von Montag bis Sonnabend. Dabei musste die Belegschaft der Göttinger Lokhalle 1904 10 Stunden/Tag arbeiten. Diese Stunden waren an die Jahreszeiten angepasst. Im Sommer: 6:30 – 18:00 Uhr und im Winter: 7:00 – 18:30 Uhr. Pausen wurden stets von 12 – 13 Uhr genommen. Nicht inbegriffen sind Überstunden, die sich wohl im Bereich zwischen einer und zwei Stunden aufhielten und nötig waren, um wenigstens etwas zum geringen Grundlohn hinzu zu verdienen. Kontrolliert wurde dies von einem Pförtner. Die Entlohnung für diese vielen Stunden war im Vergleich zur Privatwirtschaft unterdurchschnittlich. „Lohnenswert“ machte diese Arbeit nur die Verteilung des Lohns auf die Länge des Angestelltenverhältnisses bzw. das Alter der Arbeiter. Steigerte sich der Lohn in der Privatwirtschaft vom Anstellungsbeginn bis etwa zum 40. Lebensjahr und sank bis zur Rente wieder rapide ab, so stieg die Bezahlung der Arbeiter in der Lokhalle von ihrem 12. – 20. Beschäftigungsjahr stetig an, und behielt dann das Niveau des 20. Beschäftigungsjahres bis zur Rente. Zudem durften die Lokhallenbeschäftigten nur bei schweren Verstößen gekündigt werden, sodass man davon ausgehen kann, dass die Anstellung verhältnismäßig sicher war und auch sicherer entlohnt wurde. Arbeiter in der Privatwirtschaft hatten meist ein wesentlich lockeres Arbeitsverhältnis und wurden durch die Lohnpolitik überwiegend mit fortgeschrittenem Alter der Armut überlassen. Trotzdem war ein Lokhallen-Arbeiter-Leben mit einer vierköpfigen Familie  ohne einen zweiten Verdienst nicht möglich. Zu schlecht war trotz der stabilen Arbeitssituation das Auskommen der Arbeiter und damit auch ihrer Familien. So darf man nicht vergessen, dass im Kaiserreich durchschnittlich 60 % des Lohnes auf Nahrung entfiel und 20 – 30 % auf die Miete. Es war wenig finanzieller Spielraum da, um Ersparnisse anzulegen oder seine Wohn- und Lebenssituation entscheidend zum Besseren zu ändern. Die Arbeiterbewegung allerdings auch in Göttingen Gelegenheit zur Weiterbildung und zur klassenbewußten Geselligkeit (Volksheim)

Fazit. Unsicher, hart und kontrolliert.

Zusammenfassend kann man sagen: Das Leben eines Lokhallen-Arbeiters war geprägt von geringer Entlohnung bei gleichzeitigem hohen Arbeitspensum. Diese Arbeit war meist sehr hart und nicht sicher. Dabei arbeitete er in einem immer größer werdenden Industriekomplex, der immer mehr Arbeiter anstellte. Als positiv muss dabei die überdurchschnittlich sichere Anstellung dieser Arbeiter erwähnt werden. Die Lokhalle produzierte nicht wie Privatwirtschaft verarmte Menschen, trug dabei aber auch nicht sonderlich zur Verbesserung der Situation ihrer Arbeiter bei. Sozial nachverträglich war jedoch die Rente, die verhinderte, dass sich die schwierige ökonomische Situationen der ehemaligen Arbeiter weiter verschlechterten. Gleichzeitig setzte die Lokhalle ihre Arbeiter aber auch unter massiven Druck. Sei es die Gedingarbeit, die faktische Verpflichtung zu Überstunden oder auch der Einsatz von Kontrollpersonal, wie die Pförtner und unteren Beamten, die die Gedingarbeit kontrollierten und festlegten.

Als das Werk 1976 endgültig geschlossen wurde, konnte zunächst keine Nachnutzung gefunden werden und der Komplex blieb Industrieruine. In den 1990er Jahren wurde die Haupthalle umgebaut. Er entstand ein Kongresszentrum mit Veranstaltungshalle, Restaurants und Multiplexkino (Burmeister/Heinzel 2001).

zuletzt bearbeitet am 31. Januar 2013.

Literatur:

Burmeister, Karl/ Mathias Heinzel (2001), Die Göttinger Lokhalle im Otto-Hahn-Zentrum. Von der Industrie-Ruine zur Mehrzweckhalle. 120 Jahre Göttinger Eisenbanhgeschichte, Göttingen.

Siedbürger, Günther (1995): „Die Lokhalle und ihre Eisenbahner. Werksgeschichte und Arbeiterkultur in Göttingen 1855 – 1915, Göttingen.

 

Die Göttinger Scharwache

von Timo Pietsch

Die Scharwache im heutigen „Alten Rathaus“ (Markt 9) ist seit fast 280 Jahren eng mit der Stadt Göttingen verknüpft. Immer war es ein Ort des Zusammentreffens. Während es heute einen Ort der Geselligkeit und der lukullischen Genüsse darstellt, war die Scharwache in ihrer Geschichte eher durch soziale und gesellschaftliche Konflikte geprägt. Denn auch wenn die Redensart davon ausgeht, dass sich der Dritte freut, wenn zwei sich streiten, so freute sich bei den in Rede stehenden Konflikten letztlich niemand. Auf eben diese Konfliktträchtigkeit des städtischen Zusammenlebens soll im Folgenden ein Blick geworfen werden.

Forschungsstand

Eine umfassende Geschichte der Göttinger Scharwache, die 1906 zum Ratsweinkeller umfunktioniert wurde (Binder 1990, S. 19), ist noch nicht geschrieben. Dies ist umso bedauerlicher, als doch schon die bereits vorliegenden, verstreuten Forschungsergebnisse die Bedeutung der Scharwache für die Göttinger Geschichte eindrucksvoll in Szene setzen.

Scharwache nach 1900 (Kelterborn 1936).

Scharwache nach 1900 (Kelterborn 1936).

Die 28 Jahre (1735-1763) nach der Einrichtung der Scharwache, in der sie ihre ursprünglich zugewiesene Funktion ausgeübt hat, sind in einem schönen Überblick dargestellt (Brüdermann 1990, S. 79-84). Eine erschöpfende Darstellung der folgenden 143 Jahre (1763-1906) fehlt jedoch. Immerhin finden sich für diesen Zeitraum einige Schlaglichter, jedoch unterschiedlichster Qualität (vgl. etwa Lüdtke 1988, S. 164-170; Waldwege 1934, S. 51; Alexander 1979, S. 8 f.).

Deutlich wird aus dem bislang Greifbaren, dass die Scharwache nicht nur als Indikator für die sozialen Ambivalenzen zwischen Stadt und Universität gesehen werden muss, sondern auch exemplarisch für die Göttinger Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Verwaltungs- und Gerichtshoheitsträgern gewesen ist.

Die Scharwache – historischer Abriss

Ankündigung des „academischen Magistrats“ vom 1. September 1735

Ankündigung des „academischen Magistrats“ vom 1. September 1735

Von Seiten des „academischen Magistrats“ wurde am 1. September 1735 bekanntgegeben, „daß die wieder neu errichtete Schaar- und Nacht-Wache ihr Amt nunmehro antreten solle“, mit der Aufgabe „quietis publicae & securitatis vniuscuiusque vestrum custodes“ zu garantieren (Universita[e]ts-Neuigkeiten 1735, S. 3 f.), also „für öffentliche Ruhe und für die Sicherheit eines jeden Bürgers“ Sorge zu tragen (Übersetzung nach Schmeling 1987, S. 60).

Die bis 1734 personell wechselnde Bürgerwache erschien, in Anbetracht der antizipierten Konflikte, nicht mehr in der Lage die städtische Nachtruhe zu gewährleisten. Die Stadt orientierte sich an der Leipziger Universität, die – wie auch andere etablierte Universitäten – eine professionelle, mithin hauptamtliche, Wachtruppe eingesetzt hatte (Brüdermann 1990, S. 79). Nur eine solche schien in der Lage, den Auseinandersetzungen Herr zu werden, die mit dem Einzug einer neuen sozialen Gruppe, der Universitätsangehörigen, in die bestehende städtische Gesellschaft zu erwarten waren (vgl. Schmeling 1987, S. 59). Sie sollte der „mehrern Sicherheit und Bequemlichkeit der Stadt und Universita[e]t“ dienen (Hollmann 1787, S. 95).

Bereits die Bezeichnung „Scharwache“ spiegelt einen Teil ihres Aufgabenbereichs wieder. So diente die im Keller des Rathauses eingerichtete Lokalität  (Brüdermann 1990, S. 80) – die gleich der Institution als Scharwache bezeichnet wurde – vornehmlich als Sammel- und Anlaufpunkt, von dem aus die Scharwächter ihre Patrouillen begannen und an dem sie diese auch wieder beendeten. Dies stellt die wesentlichen Abgrenzung zur Schildwache dar, die einen örtlich festen Wachposten einnimmt, aber nicht patrouilliert (Grimm/Grimm 1893, Sp. 2227 f.).

Die Scharwache nahm mit ca. zwölf Mann im September 1735 ihre Tätigkeit auf (Brüdermann 1990, S. 79 setzt den Beginn wohl ungenau im Mai 1735 an; vgl. Schmeling 1987, S. 60). Das Personal war jedoch auf Grund seiner physischen Konstitution den vorgesehenen Aufgaben kaum gewachsen. Nicht nur rekrutierten sich die Scharwächter regelmäßig aus soldatischen „Invaliden“, die zum übermäßigen Alkoholkonsum – auch während des Dienstes – neigten. Vielmehr betrug ihr Altersdurchschnitt beispielsweise im Jahr 1736 48 Jahre, wobei der Älteste auf 71 Lebensjahre zurückblicken konnte (Brüdermann 1990, S. 79-81). Dementsprechend waren schon die regulären Verpflichtungen belastend, die sie im Rahmen ihrer Patrouillen zu erfüllen hatten – wie das Überwachen der Einhaltung der Sperrstunde, das frühzeitige Melden von Bränden sowie die allgemeine Sicherung von Ruhe und Ordnung. Konflikte mit Studenten – wie sie etwa aus der Kontrolle ihrer Stubengesellschaften resultieren konnten – waren kaum zu bewältigen (Brüdermann 1990, S. 80 f.).

Insbesondere auf Grund der im Folgenden darzustellenden sozialen Konflikte und Kompetenzstreitigkeiten wurde die Scharwache 1756 einer grundlegenden, jedoch vergeblichen Revision unterzogen und schließlich in ihrem ursprünglichen Aufgabenbereich durch „eine von der Schaarwache verschiedene Ja[e]ger- oder Polizeywache“ (Meiners 1801, S. 275) ersetzt. Die Institution Scharwache war damit, soweit ersichtlich, bereits nach 28 Jahren endgültig erloschen. Die Bezeichnung der Lokalität auf der Rückseite des Rathauses als „Scharwache“ blieb jedoch bestehen. Die verbliebene „kleine Scharwache“ (so Brüdermann 1990, S. 84) für rein städtische Angelegenheiten war weiterhin im Rathaus ansässig, scheint jedoch wieder als Bürgerwache konstituiert gewesen zu sein (jedenfalls in den 1830er Jahren: Lüdtke 1988, S. 164).

Handlungsunfähigkeit durch Kompetenzkonflikte und akademische Distinktion

Das zentralste Problem der Scharwache war, dass sie zwar organisatorisch sowie in ihrer Gerichtsbarkeit der Stadt zugeordnet war, jedoch gegebenenfalls auch universitärer Weisung unterlag. Dies war das Resultat einer „Generalrequisition“, die erforderlich schien, damit die Studentenschaft sich bei Zugriffen durch die Scharwache nicht in ihrer akademischen Freiheit beschnitten sehe (Brüdermann 1990, S. 79 f.).

Das Dilemma, in dem sich die Scharwache als Institution befand, fasste der Göttinger Ordinarius Christoph Meiners 1801 wie folgt zusammen: „Die Schaarwache mochte sich benehmen, wie sie wollte, so that sie weder den Studierenden, noch der akademischen Obrigkeit jemals Genu[e]ge. Bald klagte man, daß sie zu spa[e]t, oder nicht nachdru[e]cklich genug gesteuert; viel ha[e]ufiger, daß sie die Studierenden u[e]ber die Gebu[e]hr gemißhandelt habe“ (Meiners 1801, S. 273 f.). Sie wurde quasi handlungsunfähig. Verwaltungskonflikte waren ohnehin ein Göttinger Spezifikum, so konstatiert etwa der Göttinger Jurist Georg Heinrich Oesterley, dass „[i]n keiner Stadt der Hannoverschen Lande […] sich eine verwickeltere Gerichtsverfassung, als in Göttingen“ finde (Oesterley 1833, S. 1).

Jedoch nützte dieser Vermittlungsversuch in Form der „Generalrequisition“ zwischen Stadt und Universität nichts. Denn es bestand von Anfang an Feindschaft zwischen den Studenten und den Scharwächtern, die vom akademischen Nachwuchs abwertend als „Schnurren“ bezeichnet wurden. Die tiefe Abneigung veranlasste die Studenten nicht nur zu Allianzen mit ihnen grundsätzlich ebenfalls ungeliebten Personengruppen (Soldaten, Handwerker), sondern nahm mithin 1736 sogar tödlichen Ausgang; Scharwächter Christian Kasten starb durch einen Degenstich ins Herz (Brüdermann 1990, S. 83 f., 461-464).

Generell ist für die Studentenschaft das immer wiederkehrende Insistieren auf ihre akademische Freiheit sowie die Betonung ihrer studentischen Ehre charakteristisch (vgl. etwa Brüdermann 1990, S. 464-469; Tütken 1999, S. 41-48).

Wie weit es allerdings tatsächlich mit der Ehre der studiosi her war, zeigt sich an zahlreichen und verschiedensten Stellen. Universitäts-Prediger Gottfried Leß etwa charakterisierte die Studentenschaft der Anfangsjahre, anlässlich seiner „Jubelpredigt“ zum 50jährigen Universitätsjubiläum folgendermaßen: „Mehr ein Schwarm von Bachanten und Unsinnigen, als eine Gesellschaft von So[e]hnen der Musen und Lieblingen der Wissenschaften. Jn den Ho[e]rsa[e]len: Tumult; Grobheit; Barbarey; auf den Strassen, Geschrey und fu[e]rchterliches Getu[e]mmel am Tage und des Nachts Schrecken und Verwu[e]stung! Viel grobe Unthaten, auch Morde der Studierenden“ (Pütter 1788, S. 408; dazu auch Nissen 1972, S. 38).

Auch der wütende Brief einer Mutter, der Baronin von Moringen, an ihren Filius vom 11. August 1756, legt beredtes Zeugnis vom ehrenvollen Studentenleben ab, wenn sie schreibt: „Seine Schmierereien habe ich erhalten und daraus gesehen, daß Er beim Schreiben derselben voll und toll sein mußte wie eine Haubitze, auch riecht das Briefpapier so er verwendet hat, nicht nach dem Studierzimmer eines braven Studenten, sondern es stinkt nach einem ganz gemeinen Parfum, nach Tabak und Kneipe. […] der Donner soll hereinschlagen, wenn ich Ihm nicht seine Marotten aus dem Schädel treibe. […] Ich aber erwarte mit nächstem Schreiben das Versprechen, sich zu bessern, sonst lasse ich anspannen und sehe selbst nach dem Rechten“ (Klein/Müller-Ruguski 1986, S. 70 f.).

Besonders eindrucksvoll präsentiert sich die studentische Distinktion zudem im poetischen Gewande des 1734 verfassten „Reglement für einige auf der Universität Göttingen grob gesinnte“ (Unger 1861, S. 165; dazu auch Kühn 1987, S. 150-152):

„Bürger, lernet höflich sein,
sonst wird man euch Mores lehren,
Euren Buckel blau verkehren,
und die Fenster schmeissen ein.
Sollen euch nicht Pursche brühen,
Müsst ihr fein den Hut abziehen,
Damit legt ihr Ehre ein,
Bürger, lernet höflich sein.
Nennt die Purschen nicht mehr Er,
Wenn ihr sie um etwas fraget,
Redet ihr mit Uns, so saget:
Was befehlen Sie, mein Herr!
So wird man euch höflich nennen,
Euch für kluges Volk erkennen,
Und euch schadet nimmermehr;
Nennt die Purschen nur
nicht Er.
Bürger, schwäntzt die Purschen nicht,
Wollt ihr eure Nahrung treiben,
Muss Betrügerei wegbleiben,
Dieses dient euch zum Bericht.
Mit dem tische, Stub’ und Bette
Schnellt ihr Pursche um die Wette,
Weil euch noch die Kitzel sticht,
Bürger, schwäntzt die Pursche nicht.
Jungfern, denket auch daran,
Machet, seht ihr uns von ferne,
Eure Complimentgen gerne,
Sonst hängt man euch Kletten an.
Wolt ihrs mit der Grobheit wagen,
Wird man künfftig zu euch sagen:
Grobe Keule, pfui dich an!
Jungfern, denket nur daran.“

Erst nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges (1763) „sah man ein, daß es theils unschicklich sey, ehrlose Menschen, und eine ho[e]chst geehrte und edle Jugend von denselbigen Personen angreifen und ergreifen zu lassen“ (Meiners 1801, S. 274). Daher stand die nunmehr eingerichtete Jägerwache auch unmittelbar der Universität zur Verfügung (Brüdermann 1990, S. 84 f.).

 

Literatur:

Alexander, Wolfgang (1979): Als die moderne Zeit die Scharwache und Nachtwächter in der Stadt überholte, in: Göttinger Monatsblätter 6, Nr. 69, S. 8-9.

Binder, Leonore (1990): Hermann Schaper und die Neugestaltung des Göttinger Rathauses 1883-1903, Göttingen. (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen; Bd. 16).

Brüdermann, Stefan (1990): Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen. (Göttinger Universitätsschriften. Serie A: Schriften; Bd. 15). (Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1987).

Kühn, Helga Maria (1987): Studentisches Leben im Göttingen des 18. Jahrhunderts nach zeitgenössischen Berichte, Briefen, Reisebeschreibungen und Akten des Stadtarchivs, in: Hans-Georg Schmeling (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen. 26. April – 30. August 1987, Göttingen, S. 145-181.

Lüdtke, Alf (1988): Polizeiliches Einschreiten und „Menschengefühl“. Zwei Szenen aus dem Göttingen von 1830, in: Kornelia Duwe/Carola Gottschalk/Marianne Koerner (Hrsg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Wieden.

Schmeling, Hans-Georg (1987): Stadt und Universität im Spiegel der ersten Göttinger Wochenblätter, in: ders. (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen. 26. April – 30. August 1987, Göttingen, S. 31-72.

Tütken, Johannes (1999): Die Forderung nach Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit im Revolutionsjahr 1848 und ihr Scheitern. Gleichheit und Ungleichheit vor Gericht und Polizei, in: Georgia Augusta. Nachrichten aus der Universität Göttingen 70, S. 41-49.

Quellen:

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1893): Deutsches Wörterbuch, Bd. 14 (Bd. 8: R – Schiefe). Leipzig [Nachdruck: München 1984]. Online verfügbar unter URL: http://dwb.uni-trier.de/de/.

Hollmann, Samuel Christian (1787): Die Georg-Augustus-Universita[e]t zu Go[e]ttingen, in der Wiege, in Jhrer blu[e]henden Jugend, und reiffererm Alter. Mit unpartheiischer Feder entworfen von Einem Jhrer Ersten, und nun allein noch u[e]brigem, Academischem Lehrer. Hrsg. v. Johann Beckmann. Göttingen. Online verfügbar unter: URL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN638577810.

Kelterborn, Ernst (1936): Göttinger Rathaus und Marktplatz im Wandel der Zeit, Göttingen.

Klein, Diethard H./Müller-Roguski, Teresa (Hrsg.) (1986): Göttingen. Ein Lesebuch. Die Stadt Göttingen einst und jetzt in Sagen und Geschichten, Erinnerungen und Berichten, Briefen und Gedichten, Husum.

Meiners, C[hristoph] (1801): Ueber die Verfassung und Verwaltung deutscher Universita[e]ten, Bd. 1. Göttingen. Online verfügbar unter: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10733812-9.

Nissen, Walter (1972): Göttingen gestern und heute. Eine Sammlung von Zeugnissen zur Stadt- und Universitätsgeschichte, Göttingen.

Oesterley, [Georg Heinrich] (1833): Darstellung der Gerichtsverfassung in der Universitätsstadt Göttingen, Göttingen. Online verfügbar unter: http://books.google.de/books?id=YlREAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false.

Pütter, [Johann Stephan] (1788): Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universita[e]t zu Go[e]ttingen. Zweyter Theil von 1765. bis 1788, Göttingen. Online verfügbar unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN333024753.

Unger, Friedrich Wilhelm (1861): Göttingen und die Georgia Augusta. Eine Schilderung von Land, Stadt und Leuten in Vergangenheit und Gegenwart für Einheimische und Fremde, Göttingen. Online verfügbar unter: http://books.google.de/books?id=53wAAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false.

Universita[e]ts-Neuigkeiten (1735), in: Wo[e]chentliche Go[e]ttingische Nachrichten, hrsg. v. Samuel Christian Hollmann, XXX. Stu[e]ck. v. 5. September 1735, S.3-4. Online verfügbar unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN719962684.

Waldwege, Fritze vom (1934): Von der alten Chöttinger Scharwache. Dem Leben nacherzählt, in: Alt-Göttingen. Blätter zur Geschichte der Universitätsstadt. Beilage der Göttinger Zeitung, Nr. 17, S. 51.

Stand: 31.01.2013

„Klein-Paris“ in der Turmstraße

von Annika Reincke

„Klein-Paris“ wurde die Turmstraße in Göttingen genannt, in der die armen Menschen der Stadt wohnten. Der folgende Artikel befasst sich mit dieser Wohngegend im 18. und 19. Jahrhundert und geht dabei auf die Bewohner/innen, die Wohnverhältnisse und deren Auswirkungen für die Menschen in der Turmstraße ein.

Bewohner/innen

Um 1730 betrug die Einwohnerzahl Göttingens ca. 5000 Menschen. Die Armen und Bettler der Stadt Göttingen machten ca. 28% der Stadt aus, jedoch vermutet man, dass die damalige Dunkelziffer bei ca. 50% lag (Rohrbach, 1987, S. 183). Nach Verzeichnissen der Stadt von 1763 war rund jeder zweite Bewohner Göttingens „nonvalent“, d. h. er war aufgrund von Armut nicht steuerpflichtig. Diese Menschen lebten vorrangig an den Stadträndern, wie zum Beispiel im Ritterplan, an der Neuen Leine oder eben in der Turmstraße, die vermutlich wegen der dort ausgeübten Prostitution auch „Klein-Paris“ genannt wurde. Ob die Menschen mithilfe von Prostitution in dieser Straße wirklich häufiger, als in anderen armen Wohngegenden Göttingens, ihr Geld verdienten, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. In den Augen wohlhabender Stadtbürger und vieler Studenten der Zeit ging Armut mit Ehrlosigkeit einher. Der Schweizer Student Carl Hochheimer berichtete z.B. 1791 von der „Straße die klein Paris genennet wird, und in welcher die Häuser mehr Schweineställen als Menschenwohnungen ähnlich sind“ (Hochheimer 1791, S. 40). Es kann sich folglich um einen Mythos handeln, wenn man die Turmstraße wegen ihrer Prostitution auch „Klein-Paris“ nannte. Dennoch –  die Hälfte der Bewohner/innen von Klein-Paris lebten von Prostitution und Bettelei, andere waren „kleine“ Handwerker, Tagelöhner und Arbeitslose (von Frieling 1988, S. 18-31). Die Einnahmen der Menschen betrugen oft nicht mehr als 14 Mark im Monat. Allerdings kosteten auch die „Armen-Wohnungen“ 90 Mark jährlich, weshalb die meisten Bewohner auf Unterstützung angewiesen waren (siehe hierzu auch Armen-Arbeitshaus) (Wever, 1988, S.112-116).

Wohnverhältnisse in „Klein-Paris“

Die Bewohner der Turmstraße lebten in aus heutiger Sicht kaum vorstellbaren Verhältnissen. Die Häuser, die die Stadt auf Lebenszeit an Arme vermietete, wurden auch als „Buden“ bezeichnet (Schwibbe, S. 151). Eine Wohnung in „Klein-Paris“ bestand aus zwei Räumen, die übereinander lagen und mit einer Leiter aus Brettsprossen miteinander verbunden waren. Der untere Wohnraum war zwei Meter breit, drei Meter lang und zwei Meter hoch. Er umfasste demzufolge nur zwölf Kubikmeter. Bewohnt wurde dieser Raum, in dem auch gekocht wurde, durchschnittlich von zwei Erwachsenen und vier Kindern. Der obere Raum, ebenfalls von zwei Erwachsenen und vier Kindern bewohnt, bestand aus lediglich 10,50 Kubikmeter.

"Klein-Paris" um 1900. Quelle: Rohrbach, 1987, S. 186.

„Klein-Paris“ um 1900. Quelle: Rohrbach, 1987, S. 186.

Der Nachtstuhl, der für alle Bewohner der Wohnung gedacht war, stand offen an der Leiter und musste jeden Tag eine längere Strecke fortgetragen werden. Ein Hofraum oder Ähnliches gab es in diesen Vierteln der Turmstraße nicht. Es gab sogar Wohnungen, die von der Grundfläche noch kleiner waren, in denen aber die gleiche Anzahl Menschen wohnte. Durch den heißen Ofen in den Wohnungen stank es und wurde entsetzlich heiß. Bei feuchtem Wetter wurden auch die Wände der Wohnungen feucht, wodurch es häufig zu Schimmel kam (Wever 1988, S. 112-116; Wedemeyer-Kolwe 2002, S. 466).

Auswirkungen

Neben der schlechten Ernährung war die katastrophale Wohnsituation in den armen Wohngegenden in Göttingen einer der Hauptgründe für die hohe Zahl der Erkrankungen. Mangelerkrankungen. Größere Anfälligkeit für epidemische Krankheiten waren hauptsächlich in der Unterschicht Göttingens zu finden. Die Kindersterblichkeit war hier besonders hoch. Für die hohe Zahl der Erkrankungen waren vor allem der Estrichboden in den Wohnungen und die niedrige Deckenhöhe mit der Hitze, dem Tabakqualm, dem Schimmel und dem Lichtdunst verantwortlich (Rohrbach, 1987, S. 187 ff.). Die damals sowieso schon schlechte Stadtluft wurde durch die engen Gassen in „Klein-Paris“ noch verschlechtert. Diphtherie, Scharlach und Masern waren weit verbreitete Krankheiten in Göttinge , die durch die schlechten Wohnsituationen verstärkt hervorgerufen wurden (Wever 1988, S. 112-116). Hunger und Krankheiten gehörten für die ärmeren Menschen Göttingens zum Alltag. Die Buden an der Stadtmauer wurden 1885 abgerissen; im Göttinger Adressbuch tauchte 1899 zum ersten Mal der neue Name Turmstraße auf.

Literatur

Frieling, Hans-Dieter von (1988): Der Bau des Gehäuses.Die Entwicklung der Stadt Göttingen seit dem 18. Jahrhundert. Ein Vergleich von Landkarten, in: Kornelia Duwe, Carola Gottschalk, Marianne Koerner (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel: Texte und Bilder zur Stadtgeschichte. Gudensberg-Gleichen, S. 18-31.

Rohrbach, Rainer (1987): „Allerley unnützes Gesindel…“ Armut in Göttingen, in: Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht; Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen 26. April – 30. August 1987, Hans-Georg Schmeling (Hg.). Göttingen, S. 183-214.

Schwibbe, Gudrun (2002), Wahrgenommen. Die sinnliche Erfahrung der Stadt, Münster.

Wedemeyer-Kolwe, Bernd (2002): Göttinger Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ernst Böhme/ Dietrich Denecke (Hg.), Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen: Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866), Göttingen, S. 451-478.

Wever, Fritz (1988), Wohnverhältnisse in Göttingen um 1900, in: Duwe u.a., Göttingen ohne Gänseliesel, S. 112-116.

Quelle

Hochheimer, Carl F.A. (1791), Göttingen: Nach seiner eigentlichen Beschaffenheit zum Nutzen derer, die daselbst studiren wollen, Lausanne.

Das Armen- Arbeitshaus

von Fee Lautenschläger

Das Armen-Arbeitshaus zählte für den Göttinger Stadt-Physikus Karl Marx zu den „neuesten Einrichtungen der Armen- Anstalten in Göttingen“. Es wurde 1818 in der Angerstraße als moderne Institution an Stelle des bisherigen „Werkhauses“  gegründet und hatte bis zum Jahre 1911 in seiner ursprünglichen Funktion als geschlossene Armenpflege Bestand (Marx 1824, S. 300).

Aufruf der Göttinger Armen-Deputation und des Frauenvereins

Aufruf der Göttinger Armen-Deputation und des Frauenvereins, Flugschrift Göttingen 1854.

Das 19. Jahrhundert war stark von dem Gedanken der Arbeitsverpflichtung eines jeden arbeitsfähigen Menschen geprägt. Ziel jeder Armenhilfe war es, allen Arbeitsfähigen – mit Zwang und Hilfe, in offenen oder geschlossenen Einrichtungen – zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit zu verhelfen. Seit der Eröffnung der Georg-August-Universität im Jahre 1739 bot Göttingen einen besonders attraktiven Zufluchtsort für arbeitsuchende Menschen, die sich von der aufstrebenden Stadt ein besseres Leben erhofften. Insbesondere die Brüder Ludwig Gerhard und Arndt Heinrich Wagemann haben im 18. Jahrhundert mit Mühe und Energie für die Weiterentwicklung der Armenpflege in Form eines „Werkhauses“ in Göttingen eingesetzt. Organisiert wurde die Armenfürsorge der Stadt von einer Armendeputation, die im Auftrag des Magistrats die Arbeit der Armenpfleger übersah und für die Zinanzierung sorgte. Neben Spenden der Bürger kamen die Mittel aus der Stadtkasse. 1818/19 wurde das alte, zu klein gewordene Werkhaus aus dem 18. Jahrhundert durch ein modernes Arbeitshaus ersetzt, das zwei Ziele hatte, nämlich „für freiwillige Arbeiter […] Raum, Werkzeuge und Materialien“ zu schaffen und gleichzeitig „Zwangsarbeiter“ unterzubringen (Saalfeld, 1820 S. 592). Jenen Armen etwa, die von der Stadt in Klein-Paris untergebracht waren, fehlte der Raum für kleinhandwerkliche Tätigkeiten völlig. Das „Werkhaus“ bot zudem als geschlossene Armenfürsorge eine Institution, die neben der Ausgabe von Hilfsgütern, eine Unterkunft für zeitgenössisch als arbeitsscheu, liederlich, trunksüchtig und bettelnd beschriebene Menschen darstellte. Im Unterschied zur offenen Armenfürsorge, bei der Arme finanzielle Unterstützung erhielten, wurden also auch jene Menschen aufgenommen, deren Armut aus Sicht der Stadtbürger als „selbstverschuldet“ galt (z.B. durch Alkoholsucht). Kranke sowie verlassene Arme fanden in der Institution Kost, Lager sowie ärztliche Betreuung. Die Entscheidung einer Aufnahme in das Haus verlief überwiegend nach subjektiven Kriterien der Verwalter. Für viele Jahre trug der Pastor an St. Marien (1788- 1851) Carl Heinrich Miede die Verantwortung für das Armenhaus (Böhme 2002, S. 567).

Durch die Arbeitserträge der Insassen finanzierte sich das Armen-Arbeitshaus weitestgehend selbstständig und war somit unabhängig von staatlicher Unterstützung. Hinzu kamen Spenden und Wohltätigkeitsaktivitäten von Bürger/innen (siehe Frauenverein). Im Jahr 1876 konnte sogar ein Überschuss erreicht werden und ein großes Abendessen stattfinden (Schallmann 2004, S.32).

Pflichten und Abläufe

Die Aufnahme in das Armen- Arbeitshaus war für viele Menschen eine Alternative zum (illegalen) Leben auf der Straße und wurde – so die bürgerlichen Quellen aus dem 19. Jahrhundert – dankend aufgenommen. Das Leben in der Anstalt bedeutet aber auch strikte Befolgung der Hausordnung. Diese setzte Reinlichkeit und gutes Benehmen als oberste Prioritäten. Mit dem Eintritt verpflichtete man sich zur täglichen Arbeit sowie zur Anerkennung der Disziplinargewalt des aufsichtführenden Senators. Besondere Aufsicht über den Tagesablauf sowie die Bedürfnisse der Armen wurde von sogenannten „Armenfreunden und -freundinnen“ übernommen, deren Beobachtungen und Nachrichten mit dem „kleinen Kollegium“ des Magistrats geteilt wurden (Marx 1824, S.302).

Die Hausordnung galt auch für die in der Institution lebenden Kinder, die darüber hinaus zum Schulbesuch aufgefordert wurden. Offiziell konnten die Bewohner des Hauses keinen unmittelbaren Pflichten unterworfen werden, jedoch zeigen Berichte über die Zustände, dass strengste Kontrolle und Zwang an der Tagesordnung waren. Die Insassen waren an einen strikten Arbeitsablauf gebunden. Der Arbeitstag begann morgens um 5 Uhr (im Winter teilweise um 6 Uhr) und endete frühestens um 19 Uhr. Vor- und nachmittags durften die Arbeiter eine halbe Stunde Pause machen und für die Mittagszeit wurde ihnen eine längere Pause gewährt. Um 21 Uhr wurde mit einer Glocke die Schlafenszeit angekündigt und es sollte absolute Ruhe im Haus herrschen. Zu den täglichen Aufgaben gehörte Holz zerkleinern, Matten flechten, Spinnen, Stricken, Nähen und Tagelöhnerarbeit (teilweise auch außerhalb des Hauses). Auch mittellose Wanderer durften gegen Holzarbeit im Arbeitshaus nächtigen. Im selben Haus befand sich auch die sogenannte „Zwangs- Arbeitsanstalt“, deren max. 15 Insassen von den anderen Bewohnern getrennt waren und ebenso über die Armen-Deputation unterstützt wurden. (Schallmann 2004, S.33. Marx 1824, S.302).

Plan der Armenanstalt in Hamburg

Plan der Armenanstalt in Hamburg, aus: Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege 1 (1789), S. 398-399.

Zustände

Trotz Hausordnung gelang es oft nicht, Konflikte unter den Bewohner/innen zu vermeiden und für genügen Sauberkeit zu sorgen; obwohl Insassen auf Krankheiten und Parasiten untersucht wurden „wimmelten die Kleider, auf der Haut haftete so viel Schmutz, dass ärztliche Untersuchungen nötig waren“ (zit. nach: Schallmann 2004, S.33). Zudem äußerte sich das Zusammenleben auf engstem Raum zu Streit, der häufig in offener Gewalt ausgetragen wurden. Kontrollpflicht, Reinlichkeitsprinzip und Arbeitszwang waren wohl die Hauptgründe, die für eine angespannte Atmosphäre im Haus sorgten. Bei vorzeitigem Austritt oder Verstoß gegen die Hausregeln war die Stadt Göttingen berechtigt, den Bedürftigen jegliche weitere Fürsorge zu entziehen.

Ab dem 10.01.1911 wurde das Grundstück in der Angerstraße als Wanderarbeitsstätte genutzt und  für die nächsten Jahre ehemalige Insassen und Wanderarbeiter lebten unter einem Dach. Die Auflösung des ursprünglichen Armen-Arbeitshauses deutet auf die zunehmende Kommunalisierung und Entprivatisierung sozialpolitischer Maßnahmen hin (Schallmann 2004, S. 34).

Literatur
Hammann, Konrad (2002): Geschichte der evangelischen Kirche in Göttingen (ca. 1650-1866), in: Ernst Böhme und Dietrich Denecke, Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen: Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866), Göttingen, S. 525-586.

Marx, Karl F.H. (1824), Goettingen in medicinischer, physischer und historischer Hinsicht geschildert, Göttingen.  Link: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN638480337

Saalfeld, Friedrich (1820), Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, Dritter Teil 1788-1820, Hannover.

Schallmann, Jürgen (2004), Das System der kommunalen Armenfürsorge in Göttingen 1871- 1914, Göttingen.

Die städtische höhere Töchterschule

von Svenja Dehler

Das heutige Hainberg-Gymnasium in Göttingen blickt auf eine knapp 150-jährige Schulgeschichte zurück, die 1866 mit der Einrichtung einer städtischen höheren Töchterschule begann. Die Gründung der Schule war ein Meilenstein in der öffentlich organisierten Mädchenbildung in Göttingen. Insbesondere für Töchter aus gutbürgerlichen Familien von Professoren und Lehrern war die Schule vorgesehen.

Vorgeschichte

Im Jahr 1806 kam es in Göttingen zur Gründung der ersten öffentlichen Töchterschule, auch Universitäts-Töchterschule genannt. Johann Philipp Trefurt, ein Göttinger Theologe und Superintendent der Stadt, hatte das Anliegen, die Bildung junger, bürgerlicher Mädchen zu fördern. Seine Schule musste ohne staatliche Zuschüsse auskommen. Stattdessen wurden Unterhaltungskosten und Personalausgaben mit Hilfe von Schulgeldern finanziert. Dieses erste organisierte Institut mit ausgebildeten Lehrkräften legte den Grundstein für zukünftige Projekte zur Mädchenbildung. Einige Jahre nach Trefurt eröffnete Friedrich Schwerdfeger 1843 das ebenfalls mit Schulgeldern finanzierte Institut Schwerdfeger. Der Bedarf an Mädchenschulen zu der Zeit war enorm hoch. Innerhalb der ersten Jahre waren es bereits etwa 130 Schülerinnen, die in der Einrichtung Schwerdfeger lernten und die Zahlen stiegen weiter. In den Jahren zwischen 1843 und 1866 gab es noch weitere Privatschulen für Mädchen, die jedoch oftmals nicht den besten Ruf hatten und in denen die Bildung mittelmäßig war (Spieker 1990, S. 13-16, 34-39).

Die städtische höhere Töchterschule

In Göttingen gab es lange Zeit kein geregeltes Mädchenschulwesen. Dies ist verwunderlich aufgrund der vielen, an der Universität angestellten Professoren und Lehrern, die ihren Töchtern eine angemessene Ausbildung bieten wollten. Erst nach langem Nichtstun und Hinnehmen der Situation mobilisierten sich die Eltern und forderten 1865 vom Magistrat die Gründung einer mittleren und höheren Bürger- und Töchterschule. Erst nach einer erneuten Petition Ende des gleichen Jahres wurde eine Kommission berufen, die ein Konzept für eine Mädchenschule ausarbeitete. Erstaunlich schnell gab der Magistrat dem Antrag statt und übernahm die Forderungen unverändert. 1866 konnte schließlich der Unterricht an der Schule, die sich an der Ecke Ritterplan und Jüdenstraße befand, beginnen.

Städtische Höhere Mädchenschule in der Jüdenstraße 38-39, Juni 1972.

Ehem. städtische Höhere Mädchenschule in der Jüdenstraße 38-39, Juni 1972.

Wie bereits an den anderen Bildungseinrichtungen musste auch an der städtischen höheren Töchterschule Schulgeld bezahlt werden. Allerdings gab es, im Unterschied zu den vorherigen Institutionen, eine finanzielle Förderung seitens des Staates. Die Zahlen entwickelten sich positiv: Bis 1879 gab es acht Klassen mit insgesamt 185 Schülerinnen zwischen sechs und 16 Jahren, acht Lehrer und zwei Hilfskräfte. Innerhalb von 15 Jahren stieg die Zahl der Schülerinnen auf 298 an. Um der Menge an Mädchen gerecht zu werden reichte das Schulgebäude im Ritterplan 8 bald nicht mehr aus. 1880 wurde ein neues Gebäude an der Ecke Nikolaistraße/ Bürgerstraße gebaut (heute Bonifatius-Schule II). Nach Fertigstellung siedelte die gesamte Schulgemeinde in das neue Gebäude über. Der Erfolg der Schule setzte sich weiter fort: 1909 wurde die Schule zum Lyceum erklärt. Auch die Anzahl der Schülerinnen stieg stetig. Der Bedarf an mehr Platz nahm weiter zu und so wurde 1911 im Friedländer Weg 19-23 (heutiges Hainberg-Gymnasium) ein neues Gebäude errichtet. Im Jahr 1927 konnten erstmals 16 Schülerinnen am Hainberg–Gymnasium die Reifeprüfung ablegen. Trotz dieser positiven Entwicklung erhielt die Schule erst 1957 den Status eines Gymnasiums. 1971 kam es zu einer weiteren Veränderung: Zum ersten Mal wurden auch Jungen aufgenommen (Spieker 1990, S. 43-46).

Friedländer Weg 19 001 Städtisches Lyzeum. Einweihung 19.5.1913.

Städtisches Lyzeum, im Friedländer Weg 19. Einweihung 19.5.1913.

Ein verändertes Familien- und Eheverhältnis

Durch das erweiterte Bildungsangebot für Mädchen kam es zu Wandlungen des Frauenbildes in der Ehe und Familie. Lange Zeit hatten Frauen die Pflichten und Aufgaben einer Mutter und Hausfrau zu erfüllen, die ihrem Ehemann unterstellt war. Dieses Bild veränderte sich mit den vielfältigeren Bildungsmöglichkeiten, die Frauen geboten wurden. Anhand der Göttingerin Dorothea Schlözer, die als erste Frau in Deutschland 1787 die Doktorwürde erhielt, lassen sich die Fortschritte und Veränderungen innerhalb der Familie sowie zwischen den Ehepartnern darstellen. Schlözer konnte nur durch die intensive Förderung ihres Vaters, der gewettet hatte, dass auch Frauen zum „Denken geschaffen“ seien, eine universitäre Ausbildung an der Göttinger Universität genießen. Nach erfolgreichem Abschluss des „Erziehungsexperiments“ durfte Dorothea, aufgrund der damaligen Regeln, nicht an den Feierlichkeiten zur Verleihung des Doktortitels teilnehmen (Koerner 1989, S. 132-135).

Trotz eines Doktortitels in Philosophie und einer umfangreichen, für die Zeit außergewöhnlichen Bildung, hielt Dorothea Schlözer an dem traditionellen Ehebild fest. Es stand außer Frage, dass sie heiraten und eine Familie gründen würde. Allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, sah sie sich nicht in der Position einer Hausfrau und eine dem Mann unterstellten Ehefrau gebunden. Vielmehr wollte sie ihrem Ehemann eine „Gefährtin und Gehilfin“ sein, die zum Einkommenserwerb der Familie beitrug.

Auch wenn Dorothea Schlözer lange Zeit vor der Gründung der städtischen höheren Töchterschule gelebt und gewirkt hat, waren ihre Ansichten zum Familien- und Eheverständnis neu und herausragend für ihre Zeit. Ihr Bild von der Beziehung zwischen Mann und Frau innerhalb der Familie war revolutionär (Koerner 1989, S. 132-135). Nur wenige Jahre danach etablierte sich dieses Bild in vielen Familien, in denen Mädchen und Frauen die neuen Möglichkeiten einer schulischen Ausbildung genießen konnten (Habermas 2000, S. 232-242). Im späten 19. Jahrhundert schließlich übernahmen bürgerliche Frauen zunehmend Aufgaben in der öffentlichen Wohlfahrt (siehe Frauenverein) und ergriffen Lehr- und Pflegeberufe (siehe Diakonie).

Literaturverzeichnis:

Spieker, Ira (1990): Bürgerliche Mädchen im 19. Jahrhundert, Erziehung und Bildung in Göttingen 1806-1866, Göttingen.

Habermas, Rebekka (2000): Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen.

Koerner, Marianne (1989): Auf die Spur gekommen. Frauengeschichte in Göttingen, Weigang/ Neustadt.

Der Frauenverein zu Göttingen

Von Ann-Christin Lembke

In Zusammenarbeit mit der städtischen Einrichtung der Armendeputation gelang es den engagierten Mitgliedern des Frauenvereins zu Göttingen, sich und ihre Vereinstätigkeit ab dem Jahr 1840 als wichtigen Bestandteil der Göttinger Armenpflege zu etablieren. Durch großzügige Spenden, auf die der Verein bis zu seiner Schließung 1956 angewiesen bleiben sollte, konnte im Jahr 1842 schließlich das Haus „Neustadt 12“ erworben werden. Die neuen Räumlichkeiten wurden nicht nur für Lager- und Verwaltungszwecke genutzt, auch eine Kochanstalt, eine Dienstbotenschule, eine Näherei, eine Spinnerei, sowie eine Kleinkinderschule fanden Platz in dem stattlichen Gebäude (Weber-Reich 1993, S. 31f.). Die ursprünglichen Vorstadthäuser der Straße Neustadt wurden nach und nach durch großflächige Wohnhäuser ersetzt. Auch das Haus des Frauenvereins wurde überbaut.

Das Wirksamwerden der Frauen im Zeichen „christlicher Liebesthätigkeit“

Neben zahlreichen anderen Frauenvereinen deutscher Städte gründete sich auch der Verein der Göttinger Frauen unter dem Vorsatz „christlicher Liebesthätigkeit“ (Weber-Reich 1989, S. 1). Dieser spezielle Begriff appellierte vor allem an die Tugenden der christlichen und bürgerlichen Frau des 19. Jahrhunderts. Praktisch umgesetzt werden konnten dieses Prinzipen, indem man die Bedürftigen der Heimatstadt unterstützte (Weber-Reich 1989, S.19). Allerdings stand die Vereinsarbeit an sich nie im direkten Zusammenhang zur Kirche; vielmehr sollte der Beitrag der Frauen als öffentliche Anteilnahme an der Verbesserung des Soziallebens der Stadt Göttingen verstanden werden (Weber-Reich 1989, S. 28).

Die Form der Hilfestellung, die durch diese Art von Unterstützungstätigkeit gewährleistet werden sollte, gliederte sich in einen öffentlichen und in einen privaten Teil. Während der öffentliche Part die Grundversorgung, wie zum Beispiel die Speisung bedürftiger Personen beinhaltete, trug der private Part zu einer Weiterentwicklung der individuellen Armenpflege bei. Hier standen nicht „die Armen“ in ihrer gesamten Masse im Fokus, sondern die aktive Notminderung für einzelne Personen und Familien. Dies bedeutete beispielsweise Unterschichtangehörigen zu helfen, eine „würdige Berufstätigkeit“ zu erlangen, auch Frauen (Weber-Reich 1989, S.19).

Das große Interesse und die Aktionsbereitschaft der Frauen trugen dazu bei, dass bereits bei der ersten Zusammenkunft am 1. März 1840 vorläufige Statuten des Frauenvereins (Quelle 1) festgelegt wurden. Hierbei wurden folgende Vorhaben angestrebt:

1. Die Versorgung Kranker und Schwacher mit warmer Speise.
2. Die Beschäftigung armer Frauenzimmer durch weibliche Handarbeiten.
3. Das Streben, verarmten Handwerkern und Tagelöhnern Arbeit und Kunden zu verschaffen.
4. Die Erziehung Armer Mädchen für den Dienstbotenstand.
5. Die Errichtung einer Verwahrschule für arme Kinder.
6. Die Sammlung von Kleidungsstücken für arme.

Die leitenden Grundsätze (Quelle 2) hierbei waren:

„Im Einklang mit der Armenverwaltung [zu] wirken, vorzugsweise nur würdige arme unterstützen [und] in der Regel nicht durch baares [sic] Geld, sondern durch Gelegenheit zum Verdienste und Verschaffen nothwendiger [sic] Lebensbedürfnisse [zu] helfen“.

„Edle Frauen und Töchter Göttingens gründen einen Verein“ (Weber-Reich 1989, S. 24)

Ziele und Arbeitswege des Vereins waren schnell gefunden. Die Umsetzung der Pläne, der direkte Kontakt zu den Armen und die Arbeit mit ihnen gestaltete sich jedoch aufgrund der Unerfahrenheit der Frauen auf dem Gebiet der Armenfürsorge anfänglich schwierig (Weber-Reich 1989, S. 31). Nicht nur die Statuten erforderten nach und nach einige Aktualisierungen, auch die Deutungsmuster und Denkweisen der Vereinsfrauen mussten sich einer aufklärerischen Generalüberholung unterziehen. So war einer der großen Unterschiede zwischen dem Frauenverein und der Armendeputation Göttingens, dass letztere gesetzlich dazu verpflichtet war, alle Armen zu unterstützen. Wie aus den oben genannten Leitgrundsätzen von 1842 hervorgeht, zog es der Frauenverein allerdings vor, seine Hilfe nur den „würdigen“ Armen zu Teil werden zu lassen (Weber-Reich 1989, S. 23, 26). (Für weitere Abzweigungen im Bereich der Armenfürsorge siehe auch St. Michaelis – Die katholische Gemeinde und ihre Armenfürsorge.)

„Würdig“ waren in diesem Sinne beispielsweise Kranke, Alte, Verwitwete, Kinderreiche, Verwaiste, Verlassene und nur zeitweise Arbeitslose. Sprich solche Arme, die vermeintlich unverschuldet in ihre missliche Lage geraten waren und eben nicht jene, die aufgrund ihres angeblich verschwenderischen Lebensstils selbst für ihre Armut verantwortlich gemacht wurden (Weber-Reich 1989, S. 30-32).
Der Kontakt und die direkte Beschäftigung der bürgerlichen Frauen der Mittel- und Oberschicht mit den Armen ihrer Stadt ließ das eingefahrene Bild der Armut als Teil der „göttlichen Ordnung“ in den Köpfen der Frauen jedoch rasch erschüttern (Weber-Reich 1989, S. 32). Durch die wöchentlichen Besuche der Helferinnen konnte eine persönliche Beziehung zu den Bedürftigen aufgebaut werden und die Vereinsfrauen lernten immer mehr über die individuellen Schicksale und Verarmungsursachen der zu Pflegenden. Folge dieser Erkenntnis war, dass nun auch Arme, die sich als vertrauenswürdig erwiesen, in die Obhut der Vereinsfrauen aufgenommen wurden (Weber-Reich 1989, S.33).

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Foto: Vereinshaus Neustadt 12, Archivfoto des städtischen Museums Göttingen

Die Mitglieder des Frauenvereins – Von der Ehefrau zur Ausbilderin

Betrachtet man die soziale Herkunft der Mitglieder des Frauenvereins, so erklärt sich ihr anfängliches Verhalten gegenüber „selbstverschuldet“ Armen. Beschränkte sich der Zuständigkeitsbereich der „rechtschaffenden und ordentlichen“ Frauen zunächst auf den sozialen Spielraum ihrer Väter, Familien oder Ehemänner, so verschafften sie sich durch den Vereinseintritt ihr eigenes Wirkungsfeld und einen selbstständigen Tätigkeitsbereich, losgelöst von dem Personenkreis des Umfeldes ihrer Männer (Weber-Reich 1989, S. 29-31). Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass ein Großteil der Vereinsfrauen mit Professoren der Universität verheiratet war. Im Hinblick auf die Finanzierung des Vereins über Spenden und Veranstaltungen zu seinen Gunsten ist der Beitrag der Ehemänner und der Universität nicht außer Acht zu lassen (Weber-Reich 1989, S. 10).
Doch die Frauen blühten in ihren neuen Aufgaben auf und der Verein entwickelte sich zu einer fest etablierten Instanz des sozialen Lebens Göttingens. Obschon stets als Unterstützungsorgan der Armendeputation gedacht, schien die Arbeit für den Frauenverein so beflügelnd, dass die Mitgliederzahl noch im Gründungsjahr auf 242 stieg und die Arbeitszweige und Ziele des Vereins stark erweitert werden konnten. Viele Mitglieder sind sogar ohne Berufsbezeichnung ihres Mannes eingetragen, was die Position der Vereinsfrauen als selbstständige und tatkräftige Akteurinnen hervorhob (Weber-Reich 1989, S. 29).

Ein weiteres Novum fand sich außerdem in der Besetzung der Lehr- und Erziehungsstellen der „Schulanstalten zur Erziehung armer Kinder“ (Weber-Reich 1989, S. 33). Durch ihre meist von Haus aus guten Ausbildung in den weiblichen Handarbeitstätigkeiten und die eigenen Familienerfahrungen bezüglich der Arbeit mit Kindern gliederten sich die Frauen reibungslos in die Erziehungsarbeit ein und gewährleisteten so kostengünstige, da zumeist freiwillige Arbeitskraft. Die Frauen arbeiteten demnach nicht nur mit bereits ausgebildeten Lehrerinnen und Gehilfinnen zusammen, sie wurden teilweise selbst zu solchen (Weber-Reich 1989, S. 30f).
Dieser Schritt hin zur Emanzipation der Frauen führte in der Öffentlichkeit immer wieder zu dem Vorwurf, die Frau würde durch die Vereinsarbeit ihrer natürlichen Rolle entzogen (Weber-Reich 1989, S. 19). Die Erfolge ihres Engagements rechtfertigten diese Neuheiten jedoch nach und nach. (Zur Bildung und Ausbildung der Frauen im 19. Jahrhundert siehe auch: Die städtische höhere Töchterschule.)

Das Wirkungsfeld des Frauenvereins: Die acht Arbeitszweige

Beginnend mit der Versorgung der Armen mit warmer Speise und der Mitarbeit in der Familien- und Krankenpflege, gelang es den Vereinsfrauen die Arbeitszweige nach und nach um sechs Hauptzweige zu erweitern. Mit Erlangung des Vereinshauses in der Neustadt 12 (1842) wurden dem Verein eine Spinnerei, eine Stickerei, eine Weißnäherei, die Arbeit an der Kinder- und Mädchenfürsorge, eine Dienstbotenschule und eine Kleinkinderbewahranstalt angegliedert (Weber-Reich 1989, S.35). Aufgrund steter finanzieller und personeller Schwierigkeiten wurden in den folgenden Vereinsjahren keine weiteren Arbeitszweige hinzugefügt, stattdessen sollte die Arbeit in den vorhandenen Arbeitsbereichen intensiviert werden (Weber-Reich 1989, S.30).

Die finanziellen Schwierigkeiten, die den Frauenverein stets begleiteten, führten im Jahr 1956 schließlich zur Auflösung. Die von den Vereinsfrauen in die Wege geleiteten Schritte sollten jedoch nicht umsonst gewesen sein: Einzelne Arbeitszweige, wie die Armenküche und die Kinderbewahranstalt wurden vom Evangelischen Frauenbund übernommen und auch die Armendeputation übernahm einige Arbeitsweisen und Aufgabenbereiche in den eigenen Tätigkeitsbereich auf (Weber-Reich 1989, S. 2).

Stand: 30.01.2013

Literatur

Denecke, Dietrich/ Böhme, Ernst (1987): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt (Bd. 2), Göttingen.

Weber-Reich, Edeltraut (1989): Der Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Ein Beitrag zur Volkskundlichen Frauen-Vereinsforschung und zur Sozialgeschichte der Stadt Göttingen, unveröffentlichte Magisterarbeit, Göttingen.

Weber-Reich, Edeltraut (1993): „Um die Lage der hiesigen nothleidenden Classe zu verbessern“. Der Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen (Bd. 18), Göttingen.

Quellen

1) Vorläufige Vereinsstatuten vom 1. März 1840. § 22, StadtA Gö, Dep. 30/1.

2) Frauenverein zu Göttingen, Jahresbericht 1842, S. 4, StadtA Gö.

Das Universitätswaisenhaus

Zwischen Aufklärung und Arbeitserziehung

von Larissa Klick

Heute wirkt das Gebäude „Untere-Masch-Straße 3“ am Westrand der Göttinger Innenstadt recht unscheinbar, wie eine der vielen als Wohnhaus genutzten Altbauten. Jedoch beherbergte es noch bis weit in die Weimarer Republik hinein eine Besonderheit, die die Göttinger Universität von anderen unterscheidet: Ein Waisenhaus, welches bis zu seiner Schließung der Theologischen Fakultät unterstellt war. Wie es zur Errichtung eines solch speziellen Hauses kam, inwiefern es sich von anderen Einrichtungen unterschied und wer die Kinder waren, die im Göttinger Universitätswaisenhaus aufwuchsen, soll im Folgenden erläutert werden.

Von der Armenschule zum Waisenhaus

Schon 1737, im Gründungsjahr der Universität, war in Göttingen eine Armenschule von dem begüterten Studenten Reichsgraf Heinrich XI. Reuß gestiftet worden. Die hannoversche, königliche Regierung übertrug daraufhin der theologischen Fakultät die Aufsicht der Schule und gab den Auftrag, die Kinder mit Hilfe „heilsamen Unterrichts“ (zit. nach Meumann 1997, S. 25/26) zu erziehen. Die Stiftung des Grafen geschah möglicherweise auf Betreiben seines pietistisch geprägten Erziehers Mühlenberg (Meumann 1997, S. 28-31). Die pietistische Erziehung von Armen war ein zentrales Projekt des in Halle tätigen August Herrmann Franckes (1663-1727), dessen Predigten zum Thema Nächstenliebe Anfang des 18. Jahrhunderts viel Beachtung geschenkt wurden. Franckes Konzept beeinflusste die Erziehung in der Armenfürsorge in anderen Städten. Ein erklärtes Ziel war es, Kinder aus verarmten Familien so früh wie möglich durch Disziplin zu einer Gemeinschaft mit Gott und anderen Christen bzw. weg von der Verwahrlosung zu führen (Kuhn 2003, S. 43-45).

Ein an die Armenschule gebundenes Haus für Waisen gab es seit 1743. Dort wurden sechs bis acht Jungen von einer Waisenmutter betreut und umsorgt. Der Bedarf war jedoch größer und nach einer weiteren Stiftung, diesmal von einem Adligen aus dem nahegelegenen Einbeck und einer weiteren königlichen Genehmigung, wurde ein großes Grundstück gekauft. Das Gebäude in der Unteren-Masch-Straße war 1750 bezugsfertig und schon 1751 lebten 22 Kinder in dem neuerrichteten Waisenhaus. Der Bau wurde finanziell durch private Großspenden von Göttingern und von auswärts, aber auch durch Kleinspenden, Sachspenden und unentgeltliche Leistungen von Bürgern unterstützt (Meumann 1997, S. 42-45). In den folgenden Jahren wurde so gewirtschaftet, dass das Waisenhaus fast autark haushielt. Die recht begüterte Institution blieb bis ins 20. Jahrhundert finanziell unabhängig und wurde durch regelmäßige Spenden unterstützt. Die theologische Fakultät war zwar Träger des Waisenhauses, jedoch hielt sich ihr Einfluss und finanzielle Unterstüztung in Grenzen (Meumann 1997, S. 48).

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Universitätsarchiv Göttingen

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Fotoarchiv der SUB Göttingen

Die Kinder des Waisenhauses

Schon vor der Errichtung waren die Rechte des Waisenhauses daran gekoppelt, dass man Bürgerkinder bei der Aufnahme bevorzugte. Das hatten die Räte der Stadt nach Verhandlungen mit der Fakultät, den Bürgervorstehern und Gildemeister als Bedingung für die Unterstützung des Hauses festlegt (Meumann 1997, S. 44). Die Versorgung und standesgerechte Erziehung jener war demnach auch das Ziel der Einrichtung. Jedoch entstand dadurch ein Konflikt, der in den nächsten Abschnitten noch erläutert wird.

Trotz weniger Zeugnisse über die Herkunft der Waisenkinder, ist bekannt, dass vielfach Kinder von Göttinger Witwen aufgenommen wurden. Der Vater entstammte oft einer Handwerkerfamilie, somit ursprünglich aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen, hatte jedoch dann in verarmten Verhältnissen gelebt. Kein Elternteil, falls einer noch lebte, und auch keine andere verwandte Person waren im Stande, die Kinder zu versorgen. Aufgenommen wurden ehelich gezeugte, bis 1840 ausschließlich evangelische Kinder aus Göttingen ab einem Alter von 6 Jahren, da die Säuglings- und Kleinkinderpflege zu kosten- und zeitintensiv war. Die Entlassung aus der Institution sollte nach der Konfirmation, später erst nach dem ersten Lehrjahr erfolgen (Meumann 1997, S. 75-77, 81). Die Zahl der bedürftigen Kinder ist viel höher einzuschätzen, als die die tatsächlich im Waisenhaus unterkamen, da die Aufnahmekriterien wie beschrieben streng waren.

Die Kinder zur Arbeit erziehen

In der Ständegesellschaft des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts waren die im Waisenhaus lebenden Kinder dazu bestimmt, später in den Stand ihrer zu meist verarmten Eltern zurückzukehren. Die Jungen sollten somit wieder Handwerkergesellen werden und die Mädchen später bis zu ihrer Hochzeit als Magd oder in der ansässigen Textilverarbeitung als Spinnerinnen arbeiten. Der Heimalltag bereitete sie insofern auf dieses Leben vor, als ein Pfeiler in der Heimerziehung des 18. Jahrhunderts die Erziehung zur Arbeit war. Die Waisenkinder hatten in ihrem Tagesablauf feste Arbeitsstunden integriert, in denen sie Aufgaben im Haus und in der heimeigenen Spinnerei wahrnahmen. Sie sollten dadurch an Arbeit gewöhnt werden, etwas zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen, aber auch auf diese Weise Gott dienen. Zu letzterem ist zu sagen, dass die Heranführung an ein religiöses Leben für die Erziehung besonders auch für die Heimerziehung dieser Zeit eine zentrale Rolle hatte. So wurden während der nachmittäglichen Arbeit auch Texte aus Sittenbüchern vorgelesen und besprochen (Meumann 1997, S. 62-64).

Die Waisenkinder zu kleinen Denkern machen?

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Eine schulische Erziehung als Vorbereitung auf das zukünftige Leben der Heimkinder schien aus den oben beschriebenen Erwartungen sinnvoll, musste aber nicht über eine primäre Bildung im Bereich des Schreibens, Lesens, Rechnens und etwas religiöser Schulung hinausgehen. Dennoch entstand ein Konflikt, wie die Bildung der Waisenkinder aussehen sollte. Einerseits definierte der Dekan der theologischen Fakultät Miller 1777 als Ziel, die Waisen zu „guten und glücklichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft“ (Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause 1777, 7) zu erziehen. Er wollte die Kinder im Universitätswaisenhaus Vernunft und eigenständiges Denken lehren. Die aufklärerischen Erziehungsansätze der Empfindsamkeit und des Philosophen John Locke (vgl. Locke 1708) sind in diesem Konzept wieder zu finden. Locke sah den Menschen als „ein unbeschriebenes Blatt“ (Lauer 2004, S. 20), der früh mit seiner eigenen Vernunft vertraut gemacht werden solle, um diese zu benutzen. Von den Anstaltslehrern, die manchmal selbst noch Studenten der Theologie waren, wurden sie nicht nur primär geschult, sondern auch Fächer wie Alt-Griechisch, Latein, Französisch sind in Stundenplänen und Prüfungsnotizen belegt. Auch wurde von Miller darum gebeten, ebenfalls Kalligraphie, Ökonomie und Naturwissenschaften zu lehren (Lauer 2004, S. 78-80). Die Waisenkinder hättem durch diese Ausbildung also das Rüstzeug zu einer Gelehrtenlaufbahn bekommen. In der Realität war das jedoch nicht der Fall.

Es setzte sich die schon früher vom vorigen Dekan Leß geäußerte Meinung durch, dass die Ständegesellschaft nicht „vieler nützlicher Glieder beraubt“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3) werden dürfe. Leß fürchtete, dass Handwerkers- und Bauernsöhne sich nach allzuviel humanistischer Bildung zu viel Wissen und Gelehrsamkeit angeeignet hätten: Sie würden sich dann vielleicht nicht wieder in die Gesellschaft einfügen und an ihrer Stelle müssten ihnen gesellschaftlich überlegende Personen „niedere Arbeiten“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3). Die Meinung Leß‘ und das standespolitische Bewusstsein setzten sich auch in der theologischen Fakultät durch. Die Kinder wurden aus Kostengründen im frühen 19. Jahrhundert auf die Pfarrschule der Marienkirche geschickt (Meumann 1997, S. 64). Somit wurden sie schulisch wie andere Gleichaltrige unterer Schichten gebildet.

Veränderungen im 19. Jahrhundert

Es wurde nun Wert darauf gelegt, den Waisenkindern neben der religiösen Prägung, vor allen Dingen handwerkliches Geschick mitzugeben. So bekamen die Mädchen ab 1840 nachmittags Handarbeitsunterricht von Helferinnen des Frauenvereins und die Jungen hatten vor dem Abendessen Sporteinheiten. Der Arbeitsdienst der Waisenkinder betrug nicht mehr wie in der frühen Phase des Hauses sechs bis sieben sondern drei Stunden. Es wurden nur noch Arbeiten im Haus verlangt, aber nicht mehr für die ansässigen Textilbetriebe und die Waisen hatten zwei bis drei Stunden freie Zeit (Meumann 1997, S. 65/66). Trotzdem war das Leben in einem Waisenhaus auch im 19. Jahrhundert durch einen streng geregelten Tagesablauf bestimmt. Es kam auch hier zu Fällen der Mangelernährung und sexuellen Übergriffen. Trotz verbesserten Hygienebedingungen waren Krankheiten an der Tagesordnung (Meumann 1997, S. 70-72). Waisenkinder waren zudem oft Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen, so gestaltete sich die Suche nach einer Lehrstelle oft schwierig (Meumann 1997, S. 69).

Die Zukunft der Waisenkinder

Die Jungen und Mädchen des Waisenhauses gingen nach ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus meistens der oben beschriebenen, ihrer Herkunft gemäßen Tätigkeit nach. Ein sozialer Aufstieg war für die ehemaligen Heimkinder nicht zu erwarten. In Einzelfällen wurden besonders begabte Jungen des Waisenhauses an ein Lehrerseminar vermittelt und auch finanziell unterstützt. Es ist nur vom Fall Georg Wilhelm Schulze bekannt, der eine Hochschullaufbahn einschlug, promovierte und ein beachteter Theologe und Schriftsteller wurde (Meumann 1997, S. 81-85).

Fazit

Das Waisenhaus war durch die Trägerschaft der Universität zwar eine Besonderheit. Jedoch hatten die Kinder im Vergleich zu anderen Waisenhäusern keine besseren Zukunftschancen. Das Ideal der Erziehung von Mitgliedern der „bürgerlichen Gesellschaft“ wurde zusehends weniger verfolgt und die meisten Kinder kamen nach ihrem Aufenthalt in diesem Haus wieder in ein oft verarmtes Umfeld zurück.

Stand: 31.01.2013

Literatur

Kuhn, Thomas (2003): Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen (=Beiträge zur historischen Theologie 122).

Lauer, Gerhard (2004): Rousseaus Kinder. Als die Kinderbücher laufen lernten, in: Nützliches Vergnügen. Kinder- und Jugendbücher der Aufklärungszeit aus dem Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Vordemann-Sammlung [Katalog zur Ausstellung in der Paulinerkirche Göttingen, vom 5. 12. 2004 – 20. 2. 2005], Göttingen.

Locke, John (1708), Unterricht von Erziehung der Kinder, Leipzig.

Meumann, Markus (1997): Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus. Das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, Göttingen.

Quellen

„Die neun und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1777.

„Die fünf und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1773.

Link

Nachricht von dem Göttingischen Waisenhause im Netz:

http://vd18.de/de-sub-vd18/periodical/titleinfo/21278950 (zuletzt eingesehen am 10.1.2013)

Die Siedlung im Ebertal

Gefangenenlager des Ersten Weltkrieges und spätere Notsiedlung

von Malina Polauke

Als Stadt in der Mitte des Deutschen Reiches war Göttingen während des Ersten Weltkrieges nicht direkt von Kriegshandlungen betroffen. Durch die Anweisung, Kriegsgefangene in Göttingen zu versammeln, und durch die damit verbundene Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers im Ebertal war der Krieg nach den ersten Monaten auch in Göttingen angekommen. In der Funktion als Kriegsgefangenenlager hatte die Siedlung im Ebertal bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bestand. In der Nachkriegszeit diente das Lager als Notsiedlung, unter anderem für aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte deutsche Soldaten und deren Familien. Bis zu ihrer „Beseitigung“ zu Beginn der 1960er Jahre wohnten in der Siedlung im Ebertal Göttinger Familien aus der Arbeiterschicht.

Das Gebiet des ehemaligen Lagers wird heute von den Straßen Wörthstraße, Breslauer Straße, Görlitzer Straße, Merkelstraße, Himmelsbreite und Beethovenstraße eingeschlossen.

Die Anfänge

Bereits im August 1914 trafen die ersten Kriegsgefangenen in Göttingen ein, die zunächst in Lazaretten an verschiedenen Orten in der Stadt untergebracht wurden. Schon wenig später folgte die Anweisung durch das Generalkommando des X. Armeekorps, dass in Göttingen insgesamt 10.000 Kriegsgefangene aufgenommen werden sollten und dass zu diesem Zweck ein Kriegsgefangenenlager errichtet werden müsste. Im Ebertal, auf einem circa 13 Hektar großen Gebiet hinter den städtischen Kasernen (siehe auch: Die Garnison zu Göttingen), einem früheren Weizenfeld, wurde durch eine Firma und mit der Arbeitskraft von 180 Kriegsgefangenen das Lager errichtet. Das Lager mit seinen insgesamt über 200 Baracken war an die Kanalisation und an das Gleichstromnetz der Stadt angeschlossen (Mirwald 1989, S. 89f.; Stange 1935, S. 130).

LageplanQuelle: Stadtarchiv Göttingen

Lageplan
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

Allgemeines

Das Lager war in drei große Bereiche aufgeteilt. Zum einen gab es das Alte Lager, welches mit insgesamt 150 Bauten den größten Teil des Gefangenenlagers darstellte. Darunter waren 84 Baracken, in denen die Kriegsgefangenen lebten. Diese waren jeweils in vier Räume eingeteilt, zwei für die Mannschaften und zwei für die Unteroffiziere. Zum anderen gab es ein Lazarett und Absonderungslager mit 22 Bauten, welches von dem Alten Lager abgesperrt war und wo die kranken Gefangenen untergebracht waren. Das Neue Lager wurde erst später erbaut und diente mit seinen 45 Bauten besonders der Unterbringung der Wachmannschaften (Mirwald 1989, S. 90; Mirwald 1989, „Lageplan zum Kriegsgefangenenlager“).

In dem Lager wurden viele verschiedene Nationalitäten untergebracht, so kamen die Kriegsgefangenen aus Frankreich, England, Russland, Italien, Belgien, Kanada, den USA und Afghanistan (Mirwald 1989, S. 90; Meinhardt 1975, S. 8).

Die Kriegsgefangenen hielten sich nicht den gesamten Tag im Gefangenenlager auf, sondern wurden für Arbeitsdienste in der Industrie, in der Landwirtschaft und bei gemeinnützigen Aufgaben eingesetzt. Da sich der größte Teil der arbeitenden deutschen Bevölkerung als Soldaten im Krieg befand und somit Engpässe in den Fabriken und Betrieben bestanden, waren die Kriegsgefangen gern gesehen und wurden für die Arbeitgeber schnell zu unverzichtbaren Arbeitskräften. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen niedrigen Lohn. Einige von ihnen kehrten für die Nacht nicht in das Gefangenenlager zurück, sondern erhielten in der Nähe ihrer Arbeitsstelle eine Unterkunft und wurden dort auch versorgt (Hasselhorn 1999, S. 64; Mirwald 1989, S. 96-98).

Der Arbeitskräftemangel machte sich überall im Deutschen Reich bemerkbar, beispielsweise waren am 1. August 1916 von den 1,6 Millionen Kriegsgefangenen mit 1,45 Millionen rund 90 Prozent beschäftigt. Diese wurden vor allem in der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in der Industrie eingesetzt. In diesem Punkt wurde mit den Kriegsgefangenen des Lagers im Ebertal also nicht anders umgegangen als mit den anderen Kriegsgefangenen des Deutschen Reiches (Oltmer 2006, S. 70; Mirwald 1989, S. 97).

Die flämischen Kriegsgefangenen

Erst durch die außenpolitischen Entwicklungen im Herbst 1915 änderte sich die Situation auch für das Kriegsgefangenenlager in Göttingen: Nach dem Feldzug in Serbien hofften die Deutschen auf einen baldigen Sieg. Damit verbunden entstand das Ziel, aufgrund der Spannungen zwischen Flandern und Wallonien, eine Teilung Belgiens zu erreichen und die Region Flandern als Herzogtum in das Deutsche Reich einzugliedern. Aus diesem Grund wurde bestimmt, dass mithilfe gezielter Propaganda die flämischen Kriegsgefangenen dazu gebracht werden sollten, der Teilung Belgiens und dem Anschluss an das Deutsche Reich freiwillig zuzustimmen (Meinhardt 1975, S. 8).

Deswegen wurde der größte Teil der flämischen Kriegsgefangenen an einem Ort versammelt – im Göttinger Ebertal (Mirwald 1989, S. 90). Unter diesen Gefangenen befanden sich etwa 135 gebildete Flamen, welche die vorher festgelegte „Aufklärungsarbeit“ leisten sollten. Für diese Flamen wurde im Lager eine Schule errichtet, die in Zusammenarbeit mit dem Theologieprofessor der Universität Göttingen, Carl Stange, sowie einigen seiner Mitarbeiter aufgebaut wurde. Diese flämischen Gefangenen konnten an Sprachkursen und Seminaren zur Geographie und Geschichte teilnehmen sowie Vorlesungen zur Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtskunde und zu Natur- und Handelswissenschaften besuchen (Mirwald 1989, S. 91; Hasselhorn 1999, S. 64). Für diesen Unterricht wurden Unterrichtssäle eingerichtet und außerdem entstand im Lager eine Bibliothek mit einem beachtlichen Bestand von rund 10.000 Bänden sowie Leseräumen (Meinhardt 1975, S. 9). Ab Herbst 1917 war diese Schule staatlich anerkannt und im Januar 1918 wurden die ersten Examina abgelegt (Mirwald 1989, S. 92; Hasselhorn 1999, S. 64).

Innenansicht mit GefangenenQuelle: Städtisches Museum Göttingen

Innenansicht mit Gefangenen
Quelle: Städtisches Museum Göttingen

Aber auch die weniger gebildeten Flamen konnten von einer angenehmen Behandlung profitieren: Sie lebten in neuen Baracken aus bestem Material. In ihrem Alltag konnten sie behagliche Ess- und Aufenthaltsräume sowie eine Kirchenbaracke nutzen. Für flämische Künstler wurden Ateliers und für flämische Schriftsteller Arbeitszimmer eingerichtet. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen geringen Arbeitslohn, seit 1917 in Form von neu eingeführtem Lagergeld. Damit konnten die Gefangenen im kleinen Warenhaus oder in der Buchhandlung des Lagers, in der auch Bücher aus Belgien verkauft wurden, einkaufen. Außerdem wurde den Flamen im Jahr 1918 zweimal erlaubt, große Feste zu feiern. Diese waren mit so starkem Lärm verbunden, dass es zu Beschwerden seitens der Göttinger Bevölkerung kam. Aus kultureller Hinsicht gab es im Lager unter anderem eine Kunstaustellung mit Werken flämischer Gefangener (Meinhardt 1975, S. 8f.).

Von deutscher Seite aus bemühte man sich, dass die Bevorzugung der Flamen unter den Gefangenen nicht zu stark auffiel. Fast jede Nationalitätengruppe konnte ein Orchester und eine Theatergruppe gründen, sodass es im Lager regelmäßig Vorführungen gab (Mirwald 1989, S. 93). Dass das Kriegsgefangenenlager in Göttingen für die Finanzierung der Privilegien für die Flamen einen monatlichen Beitrag von 200 Mark erhielt, sollte kein Kriegsgefangener erfahren, damit niemand misstrauisch würde (Mirwald 1989, S. 91). Außerdem wurden die flämischen Gefangenen nicht vom Arbeitsdienst ausgenommen; im Juli 1918 waren von den rund 2.400 Flamen des Lagers im Ebertal 1.952 bei verschiedenen Betrieben im Einsatz (Mirwald 1989, S. 96).

Misserfolg der Propaganda

Durch einen Blick in den Briefwechsel der flämischen Gefangenen mit ihren Angehörigen aus der Heimat konnten die deutschen Militärs den Eindruck gewinnen, dass die Propaganda in Flandern keine pro-deutsche Stimmung verbreitete. Es entstand sogar vielmehr der Eindruck, dass die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen geringer wurden (Mirwald 1989, S. 91).

Als die flämischen Gefangenen im Zuge der Bestimmungen des 2. Berner Abkommens vom 26. April 1918 die Möglichkeit hatten, sich nach Frankreich austauschen zu lassen, verließ ein Großteil der flämischen Kriegsgefangenen Göttingen und das Deutsche Reich (Hasselhorn 1999, S. 64). Nach dem Ende des Krieges kehrte der größte Teil der noch verbliebenen Flamen in ihre Heimat zurück. Nur einige wenige blieben in Göttingen, entweder weil bei ihnen die Propaganda gewirkt hatte oder aber weil sie in Belgien vor ein Kriegsgericht gestellt worden wären (Meinhardt 1975, S. 9; Mirwald 1989, S. 99f.).

Die Nutzung als Notsiedlung

Nach dem Ende des Krieges verließ der Großteil der Kriegsgefangenen zügig das Gefangenenlager. Zeitgleich kehrten aber auch deutsche Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die gemeinsam mit ihren Familien keine Unterkunft mehr hatten. Deswegen wurde entschieden, das ehemalige Kriegsgefangenenlager als Notsiedlung zu benutzen, in der 349 Familien leben sollten (Mirwald 1989, S. 99f.). Um eine günstigere Lage zum Hang zu erreichen, wurden die Baracken zerlegt und leicht versetzt wieder aufgebaut. In den folgenden Jahren wurden an den Baracken Sanierungen vorgenommen. Unter anderem wurden die Mauern und Decken wärmeisoliert und die Baracken erhielten Spültoiletten und Kohleöfen. Darüber hinaus wurden sie teilweise unterkellert und konnten an das Stromnetz angeschlossen werden (Paine 1983, S. 184f.). Es ist wohl ungewöhnlich, dass ein ehemaliges Gefangenenlager als Notsiedlung verwendet wurde und aufgrund der Sanierungen sogar als einfache Siedlung bezeichnet werden kann. Es kann daran liegen, dass die Wohnungslage so schlecht war, dass keine andere Wahl blieb als die Baracken zu nutzen. Man kann aber auch vermuten, dass die Baracken, speziell diejenigen, die von den Flamen bewohnt waren, eine so gute Qualität aufwiesen, dass sich die Verantwortlichen gegen einen Abriss entschieden.

Im Laufe der Jahre erhielt die Siedlung „einen eher ländlichen Charakter“. Neben den kleinen Gärten, die zu jeder Wohnung gehörten, gab es am Rand des Ebertals weitere Grünflächen, die von den Bewohner beantragt werden konnten, sowie Stallungen zur Haltung von Tieren. Trotz der ständigen Verbesserungen und Neuerungen in der Siedlung hatte der Großteil der Göttinger Bevölkerung eine eher negative Haltung gegenüber der Siedlung im Ebertal. Diese Meinung wurde durch die Tatsache, dass es sich um „das alte Gefangenenlager“ handelte, durch falsche Annahmen über die Ausstattung der einzelnen Baracken sowie durch den „ländlichen Charakter“ der Siedlung hervorgerufen (Paine 1983, S. 185).

Vom Wohnungsmangel zum Wohnungsbau – der Abriss der Baracken

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man wieder eine Ausnahmesituation. In Göttingen war „die Einwohnerzahl […] im Jahr 1950 als Folge des Flüchtlingszustroms um rund 57% gegenüber dem Vorkriegsstand angestiegen“. Dies hatte einen großen Mangel an Wohnungen zur Folge. Erst mit dem Beginn der 1960er Jahre und dem „sozialen Wohnungsbau“ wurden Wohnungsbauprojekte realisiert, welche die Lage allmählich entspannten. Ab dem Jahr 1961 war von diesen Veränderungen auch die Siedlung im Ebertal betroffen (Trittel 1999, S. 308-310). Als Grund für die Maßnahme wurde unter anderem das Alter der Baracken angegeben, die nun schon seit über 40 Jahren bestanden und somit das einzige noch bestehende Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg darstellten. Dennoch waren die Meinungen in der Göttinger Bevölkerung zur Sanierung im Ebertal sehr verschieden. So wurde zum Beispiel kritisiert, dass zur Zeit einer so angespannten Wohnungslage bewohnbare Unterkünfte ersetzt werden sollten (Paine 1983, S. 191f.).

Mit diesem Sanierungsprogramm verschwand die Siedlung im Ebertal. Die Baracken aus dem Ersten Weltkrieg mussten neuen Wohnblocks weichen, die das Stadtbild im Ebertal heutzutage immer noch prägen (Paine 1983, S. 195).

Literaturverzeichnis

Hasselhorn, Fritz (1999): Göttingen 1917/18-1933, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 63-126.

Meinhardt, Günther (1975): Das Gefangenen-Lager im Ebertal, in: Göttinger Monatsblätter 18 (August 1975), S. 8-9.

Mirwald, Christa (1989): Ausländer in Göttingen – von 1914 bis heute, in: Schmeling, Hans-Georg (Hrsg.): 100 Jahre Göttingen und sein Museum. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Alten Rathaus 1. Oktober 1989 – 7. Januar 1990, Göttingen, S. 89-116.

Oltmer, Jochen (2006): Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914-1918, in: Ders. (Hrsg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs (Krieg in der Geschichte 24), Paderborn [u.a.], S. 67-96.

Paine, Norton (1983): Die Siedlung Ebertal/Himmelsbreite in Göttingen. Stimmen zum Problem der Sanierung eines Göttinger Stadtviertels, in: Göttinger Jahrbuch 1983, S. 183-216.

Stange, Carl (1935): Das Kriegsgefangenenlager in Göttingen, in: Saathoff, Albrecht (Hrsg.): Göttinger Kriegsgedenkbuch 1914-1918, Göttingen, S. 130-135.

Trittel, Günter J. (1999): Göttingens Entwicklung seit 1948, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 291-356.

Stand: 03.02.2013