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Diakonie in Göttingen – Krankenpflege und Mission

von Stefanie Schneider

Im 19. Jahrhundert wurden in Deutschland christliche Schwesternschaften gegründet, die Krankenpflege und Glauben miteinander verbanden. Als erstes wurden deutsche Soldaten auf die selbstlose Pflege durch katholische Schwestern in französischen Lazaretten aufmerksam – und 1866 war es auch in Göttingen soweit: Zwei protestantische Diakonissen wurden aus Hannover entsannt, um die Armen und Bedürftigen rund um die Uhr zu pflegen, da öffentliche Einrichtungen der Lage nicht mehr Herr wurden. Wie erfolgreich die Schwestern mit Zuwendung und Gesangbuch waren, lässt sich noch heute in Göttingen erkennen: Die Einrichtungen Alt-Bethlehem und Neu-Bethlehem, die für die Diakonie erbaut wurden gibt es noch heute, und sie werben noch immer mit dem Ziel „[f]ortschrittliche Medizin und exzellente Pflege mit christlichen Werten zu verbinden.“[1]

Christliche Ideale und die Rolle der Frau

Im 19. Jahrhundert wurde die Armenfürsorge für die bürgerliche Öffentlichkeit immer mehr zum Thema. Private Verbände und Vereine leisteten auch in der Krankenpflege materielle, finanzielle und personelle Unterstützung (Schmidt 1998, S. 26).  Frauenvereine unterstützten so auch Diakonissen indem sie Wohnungen und Verpflegung stellten. Pflegerinnen waren hoch angesehen und vor allem schwer zu bekommen (Weber-Reich 1999, S. 27). Ihre Rolle wurde zudem im 19. Jahrhundert stark idealisiert. Einige Leibildgeschichten aus der damaligen Zeit betonen, wie enorm groß die Bedeutung selbstloser Pflegerinnen war und lobten die „Jungfrauen“, die ihr Leben der Krankenpflege widmeten: „Wunderbar ist es anzusehen, was eine junge Dame ausrichten kann, wenn sie fest auf Jesum blickt“ (nach: Köser 2006, S. 339 – 340). Damit sollten natürlich auch medizinische Zweifel an christlicher Krankenpflege abgebaut werden. Vorreiter auf dem Gebiet christlicher Krankenfürsorge war hier die katholische Kirche: Kriegsgefangene und Soldaten in Frankreich berichteten von „Barmherzigen Schwestern“, die selbstlose Pflege der Verwundeten katholischen Glaubens und soziales Engagement auf beeindruckende Weise miteinander verbanden (Schmidt 1998, S. 29). In Deutschland gab es wenige solcher Pflegegenossenschaften. Aber sie wurden im 19. Jahrhundert verstärkt gegründet, und auch in Göttingen waren die Katholiken schneller (St. Michaelis). Schon bald nahm die evangelische Kirche auch in Göttingen die Barmherzigen Schwestern zum Vorbild und man überlegte, diese „Diakonissensache“, die sich langsam in Deutschland etablierte auch in Göttingen für die evangelische Kirche einzuführen (Weber-Reich 1999, S. 35).

Besonders die evangelische Erweckungsbewegung trieb die Bemühungen um Diakonissen voran. Sie erinnerten an die Verantwortung der Christen gegenüber ihren Mitmenschen und warben für Nächstenliebe und Güte gegenüber Armen und Bedürftigen (Weber-Reich 1999, S. 30).  So war die Hauptaufgabe der Diakonissen die Pflege der Kranken, und zwar ohne darauf zu achten, wo sie herkamen und wie viel sie besaßen (Weber-Reich 2004, S. 210). Auch die Missionierung war ein wichtiger Teil dieser christlichen Fürsorge. Der bürgerliche Protestantismus des 19. Jahrhunderts nahm eine fortschreitende Entchristlichung unter den einfachen Leuten wahr, der man mit der vorbildlichen Hingabe der Diakonissinnen entgegenwirken wollte. So lautete die Instruktion, dass der Kranke mit allen Mitteln gepflegt werden mussten, aber vor allem den Kindern mit Bibel und Gesangbuch beigestanden werden sollte (Weber-Reich 1999, S. 53-54). Beide Aufgabenfelder hatte die Diakonisse als Dienerin zu erledigen. Als Frau unterstand sie auf der einen Seiter dem Pastor, und auf der anderen Seite dem Arzt (Weber-Reich 1999, S. 42). Sie war zudem auch die Dienerin der Kranken, und sollte sie ohne Vorbehalte und ohne Rücksicht auf eigene Bedürfnisse pflegen.

Diese Philosophie lässt sich am eindeutigsten an den Arbeitsbedingungen erkennen. Die Diakonissinnen hatten fast täglich Hausbesuche und Nachtwachen in den Wohnungen der Armen zu leisten. Zwangsläufig ergab sich ein enger Kontakt zu den Kranken, da sie sie wuschen, fütterten, mit ihnen beteten und ihnen bis zum Tod beistanden. Auch in Göttingen erkrankten viele Schwestern an Typhus, doch da Erkenntnisse über Bakteriologie und Hygiene fehlten, machte man Gott für den Schutz der Diakonissinnen verantwortlich (Weber-Reich 1999, S. 47).

Alt-Bethlehem in Göttingen

In Göttingen entschloss man sich 1866 dazu, Diakonissen zu engagieren. Die Kirchenvorstandsmitglieger wählten aus ihren eigenen Reihen ein Komitee, dass die Arbeit der zwei aus dem Henriettenstift in Hannover angeforderten Diakonissen verwalten sollte (Weber-Reich 1999, S. 39). Der Vertrag, der Tätigkeitsfeld der Schwestern festlegte, wurde am 23.04.1866 unterzeichnet. Ein Mitspracherecht hatten die zwei Pflegerinnen allerdings nicht, da die Inhalte des Vertrages nicht mit ihnen abgesprochen wurden und auch keine je an den Sitzungen des Komitees teilnehmen durfte (Schmidt 1998, S. 213). Ein Gehalt erhielten sie zwar nicht, aber für Unterhalt wurde durch Spenden gesorgt, zu denen öffentlich im Göttinger Wochen- und Tageblatt aufgerufen wurde. Auch die nötigen Mittel für den Pflegedienst der Diakonissen wurde rein aus Spenden finanziert (Schmidt 1998, S. 210). Bevor die Diakonie als Station eröffnet wurde, bot der Göttinger Frauenverein den Diakonissen eine Wohnung in der Neustadt 12 an, in der sie unentgeltlich wohnen konnten (Weber-Reich 2004, S. 212). Im ersten Jahr gingen 76 Anträge aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten bei den Schwestern ein. Hauptsächlich handelte es sich bei den Patienten um Typhuskranke, deren Pflege intensivste Krankenbeobachtung erforderte (Weber-Reich 1999, S. 52). Alle Ausscheidungen mussten entfernt, Kleidung und Bettwäsche desinfiziert werden. Wickel und Umschläge sollten das Fieber und die Schmerzen lindern und Mundpflege den Geruch eindämmen. Durch diesen engen Kontakt infizierten sich die Pflegerinnen regelmäßig, sodass ein reger Wechsel im Personal herrschte.

Da die katholischen Schwestern Göttingens eine feste Station zur Verfügung hatten, wollte der evangelische Kirchenvorstand auch den evangelischen Diakonissen die Arbeit erleichtern und entschloss sich 1868 ein Haus für diese Zwecke zu bauen. Die Vorsteherin des Frauenvereins stiftete den Bauplatz in der Oberen Karspüle. 1870 wurde Alt-Bethlehem eröffnet. Es verfügte über 2 Krankenzimmer mit je 6 Betten, einen Saal, 2 Kammern, einen Baderaum, eine Küche und 2 Stuben für die Diakonissen (Weber-Reich 1999, S. 56–60). Auf der Station wurden viele Kinder aufgenommen, die an Skrofulose litten, also durch fehlerhafte Ernährung und eine unsaubere Umgebung erkrankt waren und ein erhöhtes Typhusrisiko hatten (Weber-Reich 1999, S. 65). Aus dem geplanten Kinderhospital wurde jedoch bald eher ein Kinderheim, da die Universität Göttingen der Diakonie keine geregelte ärztliche Versorgung zugestand – die Pädiatrie war noch ein neues Feld in der Medizin, und man fürchtete Konkurrenz (Weber-Reich 1999, S. 66–69). Neben den Kindern wuchs jedoch die Zahl der erwachsenen Patienten/innen stetig. So kamen allein 1871 104 Patienten/innen mit allerlei Beschwerden wie Scharlach, „Kopfgeschwür“, Rheuma und „Gemüthskrankheit“ zu den zwei Pflegerinnen. Erfreulicherweise starben weniger als 30 Patienten/innen und 63 konnten vollständig genesen (Weber-Reich 1999, S. 64).

Aufgrund des hohen Bedarfs wurde die Diakonie im Jahr 1880 um ein Gartenhäuschen erweitert, das als Kinderkrippe diente. Mit der Entwicklung der Medizin stand die kleine Diakonie jedoch immer wieder vor neuen Anforderungen. So wurde 1887 ein Operationssaal in Alt-Bethlehem eröffnet, was der Anstalt langsam den Charakter eines Privatkrankenhauses verlieh (Weber-Reich 1999, S, 82). Die Kinderstation gab es weiterhin, allerdings wurde im Obergeschoss der Klinik nun postoperative Pflege nach chirurgischen Eingriffen geleistet, die Ärzte der Universität an ihren Privatpatienten vornahmen (Weber-Reich 1999, S. 82f.). Am 9. Juli 1896 wurde deshalb der Betrieb von Neu-Bethlehem aufgenommen, denn noch immer wurde Alt-Bethlehem auch von Patienten/innen aus sehr armen Verhältnissen überrannt. Der Anteil von Langzeitpatienten/innen vor allem bei den Kindern stieg weiter an, sodass bald vom „Kinderheim“ Alt-Bethlehem die Rede war. Die Schwestern klagten in Briefen regelmäßig über die überfüllte Anstalt, und darüber, dass auch Fürsorge und Hygiene unter der räumlichen Enge litten. Schließlich wurde um 1900 das Nachbargrundstück erworben. Alt-Bethlehem wurde erweitertund den Kindern konnten mehr Platz und bessere Lebensumstände geboten werden (Weber-Reich 1999, S. 98).

Alt- und Neu-Bethlehem im 20. Jahrhundert

Ende des 19CCF29012013_00000. Jahrhunderts wurde das Krankenhaus „Neu-Bethlehem“ eröffnet. Der Neubau wurde im Kirchweg 8 errichtet. Er war größer als Alt-Bethlehem und wurde nicht mehr von einer Hausmutter geführt, sondern von einem Arzt (Weber-Reich 1999, S. 119). Allerdings kamen die Schwestern nach wie vor vom Henriettenstift Hannover. Am 19.06.1896 wurde das Privatkrankenhaus für Frauen eingeweiht. Die Patientinnen waren überwiegend wohlhabende Damen, die sich nicht von noch auszubildenden Ärzten in der Uniklinik behandeln lassen wollten (Weber-Reich 1999, S. 120). Im 20. Jahrhundert wurde Neu-Bethlehem ausgebaut. In Kriegszeiten wurde es zum Lazarett umgewandelt.

Die behandelnden Diakonissen standen vermehrt in der Kritik, da ihre Ausbildung den Anforderungen im Krankenhausbetrieb immer weniger entsprach. Die Universitätsklinik nahm Neu-Bethlehem für verschiedenste Fachrichtungen als Ausweichstation in Anspruch, sodass auch „freie“ Schwestern eingestellt wurden, um den Bedarf zu decken (Weber-Reich 1999, S. 145f). Doch seitens der Patienten/innen und Ärzte gingen wiederholt Beschwerden über die Ober- und vor allem OP-Schwestern ein, die teilweise vor Arbeitsantritt noch nie einen OP betreten hatten (Weber-Reich 1999, S. 148 ff). 1926 wurden Reformen eingeleitet, die die Ausbildung der Diakonissen verbesserten und sie mit mehr theoretischem medizinischen Fachwissen und praktischer Ausbildung ausstatteten (Weber-Reich 1999, S. 150). Alt-Bethlehem hingegen stellte den Krankenhausbetrieb offiziell ein und wurde 1931 zu einem Altenheim. 14 Damen des gehobenen Mittelstandes lebten während der NS-Zeit im „Damenstift“. Auf dem Nachbargrundstück befand sich „Klein Bethlehem“ in der Karspüle 24, das bis dato ein Frauenheim war. Auch dieses Gebäude wurde zum Altenheim, mit Platz für zehn Senioren (Weber-Reich 1999, S. 172 f). Die Diakonissen blieben in Alt- und Neu-Bethlehem bis in die 1960er Jahre präsent. Da Nachwuchs fehlte, verließ die letzte Schwester 1967 Alt-Bethlehem und übergab den Pflegedienst freien Schwestern (Weber-Reich 1999, S. 227).

Literatur

Köser, Silke (2006): Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein: kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836 – 1914, Erfurt.

Schmidt, Jutta (1998): Beruf: Schwester: Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main.

Weber-Reich, Traudel (1999): Pflegen und Heilen in Göttingen: Die Diakonissenanstalt Betlehem von 1866 – 1966, Göttingen.

Weber-Reich, Traudel (2003): „Wir sind die Pionierinnen der Pflege“: Krankenschwestern und ihre Pflegestätten im 19. Jahrhundert am Beispiel Göttingen, Göttingen.

St. Michael – Die Katholische Gemeinde und ihre Armenfürsorge (Alt-Maria-Hilf)

von Frederik Scherler

Die Geschichte der Katholischen Gemeinde in Göttingen ist so bewegt wie die der Stadt selbst. Nach langen Widerständen hatte sich eine Gemeinde etabliert, die anfänglichen Anfeindungen zum Trotz, schließlich akzeptiert wurde. Dies geschah nicht zuletzt aufgrund ihrer umfangreichen Armenfürsorge.

Der Weg zur eigenen Gemeinde

In der im Augsburger Religionsfrieden dem protestantischen Einflussbereich zugeschlagenen Stadt Göttingen war die Gründung einer eigenständigen katholischen Gemeinde lange Zeit undenkbar. Dies wusste auch die katholische Kirche, die nicht zuletzt aus politischen Gründen ein allzu starkes Eintreten für eine solche lange Zeit unterließ. Dass dies ein heikles Thema war, wurde auch daran deutlich, dass Göttingen zusammen mit anderen Städten im Königreich Hannover nicht zum angrenzenden Bistum Hildesheim gehörte (Scharf-Wrede 1995, S.16).

Die Gründung der Gemeinde erfolgte auf Veranlassung einiger engagierter Privatpersonen. Da ein öffentliches Zelebrieren des katholischen Glaubens vom Rat der Stadt verboten worden war, traf man sich ab dem frühen 18. Jahrhundert zum Zwecke des Gottesdienstes und des Gemeindelebens in privaten Wohnungen. Erst im Jahre 1750 erhielt die Gemeinde das Recht, ein Haus im eigenen Namen zu erwerben (Wehking 1992, S.12). Jedoch galten weiterhin Einschränkungen. So musste der Gottesdienst in einem Zimmer zum Hofe, fern ab von den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden. Die Erbauung und Fertigstellung der ersten Gemeindekirche erfolgte dann im Jahre 1789 in der Kurzen Straße (Wehking 1992, S.31); am äußersten Rande des damaligen Stadtgebiets, nachdem dort ein Grundstück von einem ortsansässigen Bürger erworben worden war. Erst im Jahre 1813 erfolgte dann die Errichtung des Kirchturms, da ein solcher bis dato katholischen Gemeinden im Königreich Hannover nicht gestattet wurde. Der Name der Gemeinde, St. Michael, ist keineswegs zufällig gewählt: Der Erzengel gilt in der christlichen Symbolik als der Bezwinger des Teufels und stand für die gegenreformatorische Aktivitäten der Jesuiten. Eine Aussage, die im Zusammenhang mit dem Minderheitenstatus und dem Missionsgedanken der Gemeinde zu deuten ist.

Zusammensetzung der Gemeinde

Wer im Göttingen des 18. und 19. Jahrhunderts dem katholischen Glauben anhing, war mit hoher Wahrscheinlichkeit ortsfremd und arm. Spinnerinnen aus dem nahegelenden Eichsfeld, die in den Manufakturen der Stadt angestellt wurden, gehörten ebenso dazu wie ehemalige Soldaten (Wehking 1992, S.15). Hierbei müssen zwei Gruppen unterschieden werden. Da sind zum einen Veteranen aus katholisch geprägten Gebieten, für die sich nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen aus unterschiedlichen Gründen (so zum Beispiel Invalidität) eine Rückkehr in die Heimat ausschloss. Eine Gruppe, die hierbei in der Literatur besondere Erwähnung findet, sind die französichen Veteranen des Siebenjährigen Krieges. Nach der Reichsgründung 1871 gesellten sich zu jener Gruppe aus dem Elsass stammende und in einer der Göttinger Kasernen stationierte Soldaten. Da jene Soldaten aktiv am sozialen Leben der Stadt teilnahmen, ist anzunehmen, dass sie auch in der Ausübung ihres Glaubens den Kontakt zur örtlichen Bevölkerung suchten.

Armenfürsorge

Katholische Armenfürsorge begann in Göttingen erst relativ spät. Zentral für das anfängliche Versorgungskonzept wurde das Haus „Klein-Paris Nr.16“ (heute Turmstraße). Dieses wurde der Gemeinde im Herbst 1865 vom Garnfabrikanten Ernst-Friedrich Vollmer geschenkt (Weber-Reich, 2003, S.193). Von nun an kümmerten sich hier drei Vinzentinerinnen, welche aus Hildesheim angeworben worden waren, um Arme und Kranke (siehe Diakonie). Der Orden der Vinzentinnerinnen geht bis auf das 17. Jahrhundert zurück und stammt aus Frankreich (Weber-Reich, S.42). Erst wenige Jahre zuvor hatte sich in Hildesheim ein solcher Stift gegründet (Weber-Reich, S.53). Der persönlichen Armut verpflichtet, boten die Vinzentinnerinnen vielen Frauen dennoch einen attraktiven Lebensweg, da zum einen wirtschaftliche Sicherheit garantiert wurde und zum anderen eine pflegende Berufe erlernt werden konnte (Pflegerin, Erzieherin etc.) (Weber-Reich, S.72). Andererseits steht zu beachten, dass trotz dieser progressiv anmutenden Praxis den Frauen in der Kirche einige Berufe nach wie vor verwehrt blieben (so zum Beispiel all jene Berufe, welche seelsorgerische Elemente beinhalteten). Neben der bereits erwähnten Krankenpflege gab es auch eine kleine Schule. Diese musste ihren Betrieb jedoch im Zuge des in der Gründungszeit des Deutschen Kaiserreich tobenden „Kulturkampfes“ 1876 wieder einstellen. Der Pflegebetrieb blieb davon jedoch unberührt. Im Jahre 1879 (Weber-Reich. S.198) wurde dann auf dem angrenzenden Gelände „Klein-Paris 22“ das Stift „Alt-Mariahilf“ erreicht. Die Wahl dieses Ortes ist durchaus kein Zufall. Zum einen befindet sich dieser in unmittelbarer Nähe zum Vollmerschen Haus und zur Gemeinde, zum anderen galten die Gegenden entlang der Stadtmauern im Allgemeinen und „Klein-Paris“ (heute Turmstraße) im Besonderen von jeher als Wohngebiet der Armen (Rohrbach 1987, S.185), welche auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch rund ein Fünftel der Göttinger Bevölkerung ausmachten (Sachse 1987,  S.173). Die Ausweitung der Armenfürsorge muss außerdem im Kontext des zu jener Zeit virulenten Wetteiferns der Konfessionen um die Gunst der Massen gesehen werden. Neben der Konkurenz innerhalb des christlichen Lagers gesellte sich die Angst vor einer voranschreitenden Säkularisierung und dem Entstehen, neuer, unkontrollierbarer Weltanschauungen, die in den Augen vieler Geistlicher die Massen immer weiter vom „Rechten Weg“ des Christentums entfernten. Als weitere Motivation kam hinzu, dass es gerade die katholische Kirche in Zeiten des bisimarkschen „Kulturkampfes“ schwer hatte, sich gesellschaftlich zu behaupten und nicht zuletzt deshalb versuchte durch eine umfangreiche Armenfürsorge die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu entkräften.

Im Jahr 1896 wurde das Gebäude durch den Bau von „Neu-Mariahilf“ ersetzt (Weber-Reich 2003, S.200), da man den neuen, zeitgemäßen Anforderungen an ein Krankenhaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts gerecht werden wollte. Das Gebäude des „Neu-Mariahilf“ befindet sich auch heute noch in der Humboldtalle 10 und bildet den Kern eines modernen Krankenhauses.

Heute

Heutzutage befindet sich in dem Gebäude „Klein-Paris 22“  das Pfarrhaus der Gemeinde. Auch die Tradition der Armenfürsorge hat sich bewart. So findet in dem Gebäude die tägliche Ausgabe eines Mittagstisches für Bedürftige statt. Auch wenn die kleinen Häuschen und ärmlichen Baracken, die einst so charakteristisch für diese Gegend waren, längst verschwunden sind: Das Stigma der Armut und sozialen Ausgrenzung haftet der Straße bis heute an. Nicht zuletzt da sich hier seit vielen Jahren ein wichtiger Treffpunkt der Göttinger Drogenszene befindet.

Literatur:

Rohrbach, Rainer (1987): „Allerley unnützes Gesindel…“ Armut in Göttingen. In: Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht; Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen 26. April – 30. August 1987, Hans-Georg Schmeling (Hg.). Göttingen.

Scharf-Wrede, Thomas (1995): Das Bistum Hilesheim 1866-1914, Hannover.

Weber-Reich, Traudel (2003):“Wir sind die Pionierinnen der Pflege…“, Bern.

Wehking, Sabine (1992), Ein jeder darf sich gleichen Rechts erfreu’n…“ Die Geschichte der Katholischen Kirche in Göttingen 1746-1990 (Studien zur Geschichte der Stadt Band 17), Göttingen.

Wieland, Sachse (1987), Göttingen im 18. Und 19. Jahrhundert, Zur Bevölkerungs und Sozialstruktur einer deutschen Universitätsstadt, Göttingen.

Der Frauenverein zu Göttingen

Von Ann-Christin Lembke

In Zusammenarbeit mit der städtischen Einrichtung der Armendeputation gelang es den engagierten Mitgliedern des Frauenvereins zu Göttingen, sich und ihre Vereinstätigkeit ab dem Jahr 1840 als wichtigen Bestandteil der Göttinger Armenpflege zu etablieren. Durch großzügige Spenden, auf die der Verein bis zu seiner Schließung 1956 angewiesen bleiben sollte, konnte im Jahr 1842 schließlich das Haus „Neustadt 12“ erworben werden. Die neuen Räumlichkeiten wurden nicht nur für Lager- und Verwaltungszwecke genutzt, auch eine Kochanstalt, eine Dienstbotenschule, eine Näherei, eine Spinnerei, sowie eine Kleinkinderschule fanden Platz in dem stattlichen Gebäude (Weber-Reich 1993, S. 31f.). Die ursprünglichen Vorstadthäuser der Straße Neustadt wurden nach und nach durch großflächige Wohnhäuser ersetzt. Auch das Haus des Frauenvereins wurde überbaut.

Das Wirksamwerden der Frauen im Zeichen „christlicher Liebesthätigkeit“

Neben zahlreichen anderen Frauenvereinen deutscher Städte gründete sich auch der Verein der Göttinger Frauen unter dem Vorsatz „christlicher Liebesthätigkeit“ (Weber-Reich 1989, S. 1). Dieser spezielle Begriff appellierte vor allem an die Tugenden der christlichen und bürgerlichen Frau des 19. Jahrhunderts. Praktisch umgesetzt werden konnten dieses Prinzipen, indem man die Bedürftigen der Heimatstadt unterstützte (Weber-Reich 1989, S.19). Allerdings stand die Vereinsarbeit an sich nie im direkten Zusammenhang zur Kirche; vielmehr sollte der Beitrag der Frauen als öffentliche Anteilnahme an der Verbesserung des Soziallebens der Stadt Göttingen verstanden werden (Weber-Reich 1989, S. 28).

Die Form der Hilfestellung, die durch diese Art von Unterstützungstätigkeit gewährleistet werden sollte, gliederte sich in einen öffentlichen und in einen privaten Teil. Während der öffentliche Part die Grundversorgung, wie zum Beispiel die Speisung bedürftiger Personen beinhaltete, trug der private Part zu einer Weiterentwicklung der individuellen Armenpflege bei. Hier standen nicht „die Armen“ in ihrer gesamten Masse im Fokus, sondern die aktive Notminderung für einzelne Personen und Familien. Dies bedeutete beispielsweise Unterschichtangehörigen zu helfen, eine „würdige Berufstätigkeit“ zu erlangen, auch Frauen (Weber-Reich 1989, S.19).

Das große Interesse und die Aktionsbereitschaft der Frauen trugen dazu bei, dass bereits bei der ersten Zusammenkunft am 1. März 1840 vorläufige Statuten des Frauenvereins (Quelle 1) festgelegt wurden. Hierbei wurden folgende Vorhaben angestrebt:

1. Die Versorgung Kranker und Schwacher mit warmer Speise.
2. Die Beschäftigung armer Frauenzimmer durch weibliche Handarbeiten.
3. Das Streben, verarmten Handwerkern und Tagelöhnern Arbeit und Kunden zu verschaffen.
4. Die Erziehung Armer Mädchen für den Dienstbotenstand.
5. Die Errichtung einer Verwahrschule für arme Kinder.
6. Die Sammlung von Kleidungsstücken für arme.

Die leitenden Grundsätze (Quelle 2) hierbei waren:

„Im Einklang mit der Armenverwaltung [zu] wirken, vorzugsweise nur würdige arme unterstützen [und] in der Regel nicht durch baares [sic] Geld, sondern durch Gelegenheit zum Verdienste und Verschaffen nothwendiger [sic] Lebensbedürfnisse [zu] helfen“.

„Edle Frauen und Töchter Göttingens gründen einen Verein“ (Weber-Reich 1989, S. 24)

Ziele und Arbeitswege des Vereins waren schnell gefunden. Die Umsetzung der Pläne, der direkte Kontakt zu den Armen und die Arbeit mit ihnen gestaltete sich jedoch aufgrund der Unerfahrenheit der Frauen auf dem Gebiet der Armenfürsorge anfänglich schwierig (Weber-Reich 1989, S. 31). Nicht nur die Statuten erforderten nach und nach einige Aktualisierungen, auch die Deutungsmuster und Denkweisen der Vereinsfrauen mussten sich einer aufklärerischen Generalüberholung unterziehen. So war einer der großen Unterschiede zwischen dem Frauenverein und der Armendeputation Göttingens, dass letztere gesetzlich dazu verpflichtet war, alle Armen zu unterstützen. Wie aus den oben genannten Leitgrundsätzen von 1842 hervorgeht, zog es der Frauenverein allerdings vor, seine Hilfe nur den „würdigen“ Armen zu Teil werden zu lassen (Weber-Reich 1989, S. 23, 26). (Für weitere Abzweigungen im Bereich der Armenfürsorge siehe auch St. Michaelis – Die katholische Gemeinde und ihre Armenfürsorge.)

„Würdig“ waren in diesem Sinne beispielsweise Kranke, Alte, Verwitwete, Kinderreiche, Verwaiste, Verlassene und nur zeitweise Arbeitslose. Sprich solche Arme, die vermeintlich unverschuldet in ihre missliche Lage geraten waren und eben nicht jene, die aufgrund ihres angeblich verschwenderischen Lebensstils selbst für ihre Armut verantwortlich gemacht wurden (Weber-Reich 1989, S. 30-32).
Der Kontakt und die direkte Beschäftigung der bürgerlichen Frauen der Mittel- und Oberschicht mit den Armen ihrer Stadt ließ das eingefahrene Bild der Armut als Teil der „göttlichen Ordnung“ in den Köpfen der Frauen jedoch rasch erschüttern (Weber-Reich 1989, S. 32). Durch die wöchentlichen Besuche der Helferinnen konnte eine persönliche Beziehung zu den Bedürftigen aufgebaut werden und die Vereinsfrauen lernten immer mehr über die individuellen Schicksale und Verarmungsursachen der zu Pflegenden. Folge dieser Erkenntnis war, dass nun auch Arme, die sich als vertrauenswürdig erwiesen, in die Obhut der Vereinsfrauen aufgenommen wurden (Weber-Reich 1989, S.33).

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Foto: Vereinshaus Neustadt 12, Archivfoto des städtischen Museums Göttingen

Die Mitglieder des Frauenvereins – Von der Ehefrau zur Ausbilderin

Betrachtet man die soziale Herkunft der Mitglieder des Frauenvereins, so erklärt sich ihr anfängliches Verhalten gegenüber „selbstverschuldet“ Armen. Beschränkte sich der Zuständigkeitsbereich der „rechtschaffenden und ordentlichen“ Frauen zunächst auf den sozialen Spielraum ihrer Väter, Familien oder Ehemänner, so verschafften sie sich durch den Vereinseintritt ihr eigenes Wirkungsfeld und einen selbstständigen Tätigkeitsbereich, losgelöst von dem Personenkreis des Umfeldes ihrer Männer (Weber-Reich 1989, S. 29-31). Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass ein Großteil der Vereinsfrauen mit Professoren der Universität verheiratet war. Im Hinblick auf die Finanzierung des Vereins über Spenden und Veranstaltungen zu seinen Gunsten ist der Beitrag der Ehemänner und der Universität nicht außer Acht zu lassen (Weber-Reich 1989, S. 10).
Doch die Frauen blühten in ihren neuen Aufgaben auf und der Verein entwickelte sich zu einer fest etablierten Instanz des sozialen Lebens Göttingens. Obschon stets als Unterstützungsorgan der Armendeputation gedacht, schien die Arbeit für den Frauenverein so beflügelnd, dass die Mitgliederzahl noch im Gründungsjahr auf 242 stieg und die Arbeitszweige und Ziele des Vereins stark erweitert werden konnten. Viele Mitglieder sind sogar ohne Berufsbezeichnung ihres Mannes eingetragen, was die Position der Vereinsfrauen als selbstständige und tatkräftige Akteurinnen hervorhob (Weber-Reich 1989, S. 29).

Ein weiteres Novum fand sich außerdem in der Besetzung der Lehr- und Erziehungsstellen der „Schulanstalten zur Erziehung armer Kinder“ (Weber-Reich 1989, S. 33). Durch ihre meist von Haus aus guten Ausbildung in den weiblichen Handarbeitstätigkeiten und die eigenen Familienerfahrungen bezüglich der Arbeit mit Kindern gliederten sich die Frauen reibungslos in die Erziehungsarbeit ein und gewährleisteten so kostengünstige, da zumeist freiwillige Arbeitskraft. Die Frauen arbeiteten demnach nicht nur mit bereits ausgebildeten Lehrerinnen und Gehilfinnen zusammen, sie wurden teilweise selbst zu solchen (Weber-Reich 1989, S. 30f).
Dieser Schritt hin zur Emanzipation der Frauen führte in der Öffentlichkeit immer wieder zu dem Vorwurf, die Frau würde durch die Vereinsarbeit ihrer natürlichen Rolle entzogen (Weber-Reich 1989, S. 19). Die Erfolge ihres Engagements rechtfertigten diese Neuheiten jedoch nach und nach. (Zur Bildung und Ausbildung der Frauen im 19. Jahrhundert siehe auch: Die städtische höhere Töchterschule.)

Das Wirkungsfeld des Frauenvereins: Die acht Arbeitszweige

Beginnend mit der Versorgung der Armen mit warmer Speise und der Mitarbeit in der Familien- und Krankenpflege, gelang es den Vereinsfrauen die Arbeitszweige nach und nach um sechs Hauptzweige zu erweitern. Mit Erlangung des Vereinshauses in der Neustadt 12 (1842) wurden dem Verein eine Spinnerei, eine Stickerei, eine Weißnäherei, die Arbeit an der Kinder- und Mädchenfürsorge, eine Dienstbotenschule und eine Kleinkinderbewahranstalt angegliedert (Weber-Reich 1989, S.35). Aufgrund steter finanzieller und personeller Schwierigkeiten wurden in den folgenden Vereinsjahren keine weiteren Arbeitszweige hinzugefügt, stattdessen sollte die Arbeit in den vorhandenen Arbeitsbereichen intensiviert werden (Weber-Reich 1989, S.30).

Die finanziellen Schwierigkeiten, die den Frauenverein stets begleiteten, führten im Jahr 1956 schließlich zur Auflösung. Die von den Vereinsfrauen in die Wege geleiteten Schritte sollten jedoch nicht umsonst gewesen sein: Einzelne Arbeitszweige, wie die Armenküche und die Kinderbewahranstalt wurden vom Evangelischen Frauenbund übernommen und auch die Armendeputation übernahm einige Arbeitsweisen und Aufgabenbereiche in den eigenen Tätigkeitsbereich auf (Weber-Reich 1989, S. 2).

Stand: 30.01.2013

Literatur

Denecke, Dietrich/ Böhme, Ernst (1987): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt (Bd. 2), Göttingen.

Weber-Reich, Edeltraut (1989): Der Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Ein Beitrag zur Volkskundlichen Frauen-Vereinsforschung und zur Sozialgeschichte der Stadt Göttingen, unveröffentlichte Magisterarbeit, Göttingen.

Weber-Reich, Edeltraut (1993): „Um die Lage der hiesigen nothleidenden Classe zu verbessern“. Der Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen (Bd. 18), Göttingen.

Quellen

1) Vorläufige Vereinsstatuten vom 1. März 1840. § 22, StadtA Gö, Dep. 30/1.

2) Frauenverein zu Göttingen, Jahresbericht 1842, S. 4, StadtA Gö.

Die „Herberge zur Heimath“

Christliche Armenfürsorge mit Hang zur Kontrolle?

von Johanna Mencke

Am Leinekanal 2 ist heute ein Altenheim zufinden. Im 19. Jahrhundert jedoch diente die Fürsorge einer anderen Bevölkerungsgruppe als den Senioren, nämlich jungen Handwerkern auf Wanderschaft. Als „Herberge zur Heimath“ fungierte das Gebäude lange Zeit als Teil der protestantischen Armenfürsorge Göttingens, die wandernden Handwerkern ein Obdach gewährte.

Die Brüder Grimm, die Zeit ihres Lebens in Göttingen lebten, überlieferten uns das idealisierte Bild eines jungen Mannes auf Wanderschaft im 19. Jahrhundert: Hans im Glück. Doch in der Realität sah dies das ganz anders aus – Wanderer hatten mit Elend, Armut und Obdachlosigkeit zu kämpfen. Einen Einblick in das Leben und Wohnen der jungen Handwerker von damals ermöglicht die „Herberge zur Heimath“. Bevor auf das Gebäude direkt eingegangen werden kann, müssen grundlegende Tendenzen erläutert werden, die das Handwerk im 19. Jahrhundert maßgeblich verändert haben und erst zur Notwendigkeit einer solchen Herberge geführt haben.

Die Einführung der Gewerbefreiheit und die Erosion der Zunftordnung bedeutete sukzessiv das Ende der Sozialform des „ganzen Hauses“, einer „Arbeits-und Lebensgemeinschaft der Gesellen und ihrer Meister im meisterlichen Haushalt“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 23). Den Gesellen fehlte also ein Obdach und sie waren während ihrer Wanderung, die lange Zeit Voraussetzung für die Meisterprüfung war, auf Hilfe angewiesen. In den Augen des christlichen Bürgertums führte der ökonimische Wandel zu einem „sittlich-moralischen Niedergang des Wandergesellentums“, denn die Meister konnten nicht wie vorher neben der Wissensvermittlung auch für die Bewahrung vor unsittlichem Verhalten und eine christliche Erziehung sorgen. Ort ebendieser sittlichen Verwilderung waren nach Überzeugung von Staat und Bürgertum auf Grund von schlechten Zuständen, Alkohol, Glücksspiel und Überbelegung so genannte „wilde“ Herbergen, das heißt Möglichkeiten der Unterkunft und Verpflegung in Zunft- und Gewerksherbergen. (Schmuhl/Winkler 2009, S. 20-24). Schließlich wandten sich Männer aus dem Milieu des erweckten Protestantismus dem Problem zu. Eine Besserung der Verhältnisse sollte durch eine Reorganisation der Gesellschaft unter den Schlagworten „Zucht“, „Gehorsam“, „Glaube“ und „Gottesfurcht“ stattfinden (Schmuhl/Winkler 2009, S .21-22).

Das Konzept der „Herbergen zur Heimath als Alternative zu den „wilden Herbergen

Auch Clemens Theodor Perthes (1809 – 1867), Bonner Stadtverordneter und Mitglied der städtischen Armenverwaltung, sah die „wilden“ Herbergen als Gefahr für das Allgemeinwohl. 1849 war er an der Gründung eines Lokalvereins für Innere Mission beteiligt, der sich der fürsorgerischen Tätigkeit für wandernde Handwerksgesellen annehmen wollte. Im Zuge dieser Arbeit gründete er die erste „Herberge zur Heimath“ 1854 in Bonn. Das für diese Herberge entwickelte Konzept hatte das Ziel die wandernden Gesellen durch ein sauberes Bett, Verpflegung und Möglichkeiten zur Körper- und Kleiderpflege vor der Verwahrlosung zu schützen. Die restriktive Hausordnung, die jede „Herberge zur Heimath“ hatte, resultierte aus der Annahme, dass die individuelle Not der Wanderer eine Folge moralischen Versagens sei. So „nahm die gut gemeinte diakonische Hilfe einen patriarchal-erzieherischen Charakter an“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 37). Die Herberge sollte offen für jede Glaubensrichtung sein und vor Versuchungen wie „Alkohol, Müßiggang, Glücksspiel, Prostitution und homosexuellen Kontakten“ bewahren. Außerdem sollte der Strom der Wanderer allmählich von den „wilden“ Herbergen weggelenkt werden (Schmuhl/Winkler 2009, S. 32-34).

Wanderarbeitsstätten für zahlungsunfähige Wanderer

Da „Herbergen zur Heimath“ nur zahlende Gäste aufnehmen konnten, wurden flächendeckend Naturalpflegestationen gegründet, die später in Wanderarbeitsstätten (ab 1911 auch in Göttingen)
umbenannt wurden, um auch die nicht zahlungsfähigen Armen unterstützen zu können. Die Arbeitsstätten boten Mittellosen die Gelegenheit, sich durch diverse Arbeiten Kost und Logis für eine Nacht zu verdienen, bevor sie wieder weiterwandern mussten. Diese temporären Schutzräume, die Erziehungseinrichtungen ähnelten, folgten dem Prinzip „Arbeiten statt Almosen“ (Schmuhl/Winkler 2009, S. 41).

Da die Stadt Göttingen auf einer der vorgeschriebenen Wanderstraßen lag, wurde sie von auffällig vielen Wanderarmen durchreist, alleine 1898 waren es 2100 Reisende. 1886 machten die wandernden Tischler und Dachdecker sogar die Hälfte der in Göttingen ansässigen Handwerker ebendieser Bereiche aus.

Die „Herberge zur Heimath“ in Göttingen

Das Konzept der Herberge zur Heimat gewann im Laufe der Jahre über Bonn hinaus an Popularität, sodass auch in anderen Städten Herbergen gegründet wurden. Gab es 1874 in 98 deutschen Städten und Gemeinden „Herbergen zur Heimath“, so stieg deren Anzahl bis 1890 bereits auf 362.

Bei einer Versammlung von interessierten Bürgern Göttingens zur Errichtung einer „Herberge zur Heimath“, entstand am 07.02.1872 ein Verein für die Gründung einer solchen Herberge. Am 24.02.1880 eröffnet schließlich die „Herberge zur Heimath“ im alten Schulhaus St. Johannis. Da schon am ersten Abend 13 Schlafgäste verzeichnet wurden, überraschte es nicht, dass das Gebäude schnell zu klein wurde.

Hofer: Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen 1879.

Hofer (1879): Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen.

Am 08.11.1889 wurde der Neubau am Leinekanal 2 eingeweiht. Die  Grundlagen des Konzeptes von Perthes finden sich auch in der Hausordnung der „Herberge zur Heimath“ in Göttingen wieder: Neben Alkohol waren Glücksspiel und Vandalismus strengstens verboten.

1912 wurde der erste Stock des Gebäudes als christliches Hospiz eingerichtet, um die Finanzierung zu sichern. Im August 1914 wurden außerdem 50 Betten als Lazarett zur Verfügung gestellt. Seit 1952 wird die ehemalige „Herberge zur Heimath“ am Leinekanal 2 als Altenheim genutzt und seit 1964 vom Diakonischen Werk Göttingen e.V.  getragen (Robrecht-Krause 1992, S. 4-18).

Während also die Herbergen zur Heimat für zahlungsfähige Gesellen auf Wanderschaft gedacht waren, richtete man Wanderarbeitsstätten für mittellose Wanderarme ein. Zusätzlich gab es Arbeiterkolonien für nicht oder schwer vermittelbare Arbeiter. Diese Vielfalt und starke Auffächerung zeigt eine starke Expansion und Ausdifferenzierung der protestantischen Armenfürsorge für die wandernden Bedürftigen seit der Gründung der ersten Herberge zur Heimat im Jahr 1854. Ebendiese Vielfalt an Möglichkeiten zur Fürsorge hatte für viele Menschen die Folge, das Wandern als eine Art „Lebensberuf“ zu ergreifen, eine Tendenz, die man ursprünglich hatte verhindern wollen (Schmuhl/Winkler 2009, S. 42/51).

Stand: 30.01.2013

Literatur

Robrecht-Krause, Elsbeth (1992), Göttingen Am Leinekanal 2. Herberge zur Heimat – Mädchenheim – Altenheim. 100 Jahre Leben und Wirken in einem Haus, Göttingen.

von Saldern, Adelheid (1973), Vom Einwohner zum Bürger. Zur Emanzipation der städtischen Unterschicht Göttingens 1890-1920. Eine sozial-und kommunalhistorische Untersuchung, Berlin.

von Saldern, Adelheid (1984), Auf dem Wege zum Arbeiter-Reformismus. Parteialltag in sozialdemokratischer Provinz Göttingen (1870-1920), Frankfurt.

Schmuhl, Hans-Walter/ Winkler, Ulrike (2009), Das Evangelische Perthes-Werk. Vom Fachverband für Wandererfürsorge zum 
diakonischen Unternehmen
, Bielefeld.

Quellen

Hofer (1879): Statuten der Herberge zur Heimath, Göttingen.

Das Universitätswaisenhaus

Zwischen Aufklärung und Arbeitserziehung

von Larissa Klick

Heute wirkt das Gebäude „Untere-Masch-Straße 3“ am Westrand der Göttinger Innenstadt recht unscheinbar, wie eine der vielen als Wohnhaus genutzten Altbauten. Jedoch beherbergte es noch bis weit in die Weimarer Republik hinein eine Besonderheit, die die Göttinger Universität von anderen unterscheidet: Ein Waisenhaus, welches bis zu seiner Schließung der Theologischen Fakultät unterstellt war. Wie es zur Errichtung eines solch speziellen Hauses kam, inwiefern es sich von anderen Einrichtungen unterschied und wer die Kinder waren, die im Göttinger Universitätswaisenhaus aufwuchsen, soll im Folgenden erläutert werden.

Von der Armenschule zum Waisenhaus

Schon 1737, im Gründungsjahr der Universität, war in Göttingen eine Armenschule von dem begüterten Studenten Reichsgraf Heinrich XI. Reuß gestiftet worden. Die hannoversche, königliche Regierung übertrug daraufhin der theologischen Fakultät die Aufsicht der Schule und gab den Auftrag, die Kinder mit Hilfe „heilsamen Unterrichts“ (zit. nach Meumann 1997, S. 25/26) zu erziehen. Die Stiftung des Grafen geschah möglicherweise auf Betreiben seines pietistisch geprägten Erziehers Mühlenberg (Meumann 1997, S. 28-31). Die pietistische Erziehung von Armen war ein zentrales Projekt des in Halle tätigen August Herrmann Franckes (1663-1727), dessen Predigten zum Thema Nächstenliebe Anfang des 18. Jahrhunderts viel Beachtung geschenkt wurden. Franckes Konzept beeinflusste die Erziehung in der Armenfürsorge in anderen Städten. Ein erklärtes Ziel war es, Kinder aus verarmten Familien so früh wie möglich durch Disziplin zu einer Gemeinschaft mit Gott und anderen Christen bzw. weg von der Verwahrlosung zu führen (Kuhn 2003, S. 43-45).

Ein an die Armenschule gebundenes Haus für Waisen gab es seit 1743. Dort wurden sechs bis acht Jungen von einer Waisenmutter betreut und umsorgt. Der Bedarf war jedoch größer und nach einer weiteren Stiftung, diesmal von einem Adligen aus dem nahegelegenen Einbeck und einer weiteren königlichen Genehmigung, wurde ein großes Grundstück gekauft. Das Gebäude in der Unteren-Masch-Straße war 1750 bezugsfertig und schon 1751 lebten 22 Kinder in dem neuerrichteten Waisenhaus. Der Bau wurde finanziell durch private Großspenden von Göttingern und von auswärts, aber auch durch Kleinspenden, Sachspenden und unentgeltliche Leistungen von Bürgern unterstützt (Meumann 1997, S. 42-45). In den folgenden Jahren wurde so gewirtschaftet, dass das Waisenhaus fast autark haushielt. Die recht begüterte Institution blieb bis ins 20. Jahrhundert finanziell unabhängig und wurde durch regelmäßige Spenden unterstützt. Die theologische Fakultät war zwar Träger des Waisenhauses, jedoch hielt sich ihr Einfluss und finanzielle Unterstüztung in Grenzen (Meumann 1997, S. 48).

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Universitätsarchiv Göttingen

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Fotoarchiv der SUB Göttingen

Die Kinder des Waisenhauses

Schon vor der Errichtung waren die Rechte des Waisenhauses daran gekoppelt, dass man Bürgerkinder bei der Aufnahme bevorzugte. Das hatten die Räte der Stadt nach Verhandlungen mit der Fakultät, den Bürgervorstehern und Gildemeister als Bedingung für die Unterstützung des Hauses festlegt (Meumann 1997, S. 44). Die Versorgung und standesgerechte Erziehung jener war demnach auch das Ziel der Einrichtung. Jedoch entstand dadurch ein Konflikt, der in den nächsten Abschnitten noch erläutert wird.

Trotz weniger Zeugnisse über die Herkunft der Waisenkinder, ist bekannt, dass vielfach Kinder von Göttinger Witwen aufgenommen wurden. Der Vater entstammte oft einer Handwerkerfamilie, somit ursprünglich aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen, hatte jedoch dann in verarmten Verhältnissen gelebt. Kein Elternteil, falls einer noch lebte, und auch keine andere verwandte Person waren im Stande, die Kinder zu versorgen. Aufgenommen wurden ehelich gezeugte, bis 1840 ausschließlich evangelische Kinder aus Göttingen ab einem Alter von 6 Jahren, da die Säuglings- und Kleinkinderpflege zu kosten- und zeitintensiv war. Die Entlassung aus der Institution sollte nach der Konfirmation, später erst nach dem ersten Lehrjahr erfolgen (Meumann 1997, S. 75-77, 81). Die Zahl der bedürftigen Kinder ist viel höher einzuschätzen, als die die tatsächlich im Waisenhaus unterkamen, da die Aufnahmekriterien wie beschrieben streng waren.

Die Kinder zur Arbeit erziehen

In der Ständegesellschaft des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts waren die im Waisenhaus lebenden Kinder dazu bestimmt, später in den Stand ihrer zu meist verarmten Eltern zurückzukehren. Die Jungen sollten somit wieder Handwerkergesellen werden und die Mädchen später bis zu ihrer Hochzeit als Magd oder in der ansässigen Textilverarbeitung als Spinnerinnen arbeiten. Der Heimalltag bereitete sie insofern auf dieses Leben vor, als ein Pfeiler in der Heimerziehung des 18. Jahrhunderts die Erziehung zur Arbeit war. Die Waisenkinder hatten in ihrem Tagesablauf feste Arbeitsstunden integriert, in denen sie Aufgaben im Haus und in der heimeigenen Spinnerei wahrnahmen. Sie sollten dadurch an Arbeit gewöhnt werden, etwas zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen, aber auch auf diese Weise Gott dienen. Zu letzterem ist zu sagen, dass die Heranführung an ein religiöses Leben für die Erziehung besonders auch für die Heimerziehung dieser Zeit eine zentrale Rolle hatte. So wurden während der nachmittäglichen Arbeit auch Texte aus Sittenbüchern vorgelesen und besprochen (Meumann 1997, S. 62-64).

Die Waisenkinder zu kleinen Denkern machen?

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Eine schulische Erziehung als Vorbereitung auf das zukünftige Leben der Heimkinder schien aus den oben beschriebenen Erwartungen sinnvoll, musste aber nicht über eine primäre Bildung im Bereich des Schreibens, Lesens, Rechnens und etwas religiöser Schulung hinausgehen. Dennoch entstand ein Konflikt, wie die Bildung der Waisenkinder aussehen sollte. Einerseits definierte der Dekan der theologischen Fakultät Miller 1777 als Ziel, die Waisen zu „guten und glücklichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft“ (Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause 1777, 7) zu erziehen. Er wollte die Kinder im Universitätswaisenhaus Vernunft und eigenständiges Denken lehren. Die aufklärerischen Erziehungsansätze der Empfindsamkeit und des Philosophen John Locke (vgl. Locke 1708) sind in diesem Konzept wieder zu finden. Locke sah den Menschen als „ein unbeschriebenes Blatt“ (Lauer 2004, S. 20), der früh mit seiner eigenen Vernunft vertraut gemacht werden solle, um diese zu benutzen. Von den Anstaltslehrern, die manchmal selbst noch Studenten der Theologie waren, wurden sie nicht nur primär geschult, sondern auch Fächer wie Alt-Griechisch, Latein, Französisch sind in Stundenplänen und Prüfungsnotizen belegt. Auch wurde von Miller darum gebeten, ebenfalls Kalligraphie, Ökonomie und Naturwissenschaften zu lehren (Lauer 2004, S. 78-80). Die Waisenkinder hättem durch diese Ausbildung also das Rüstzeug zu einer Gelehrtenlaufbahn bekommen. In der Realität war das jedoch nicht der Fall.

Es setzte sich die schon früher vom vorigen Dekan Leß geäußerte Meinung durch, dass die Ständegesellschaft nicht „vieler nützlicher Glieder beraubt“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3) werden dürfe. Leß fürchtete, dass Handwerkers- und Bauernsöhne sich nach allzuviel humanistischer Bildung zu viel Wissen und Gelehrsamkeit angeeignet hätten: Sie würden sich dann vielleicht nicht wieder in die Gesellschaft einfügen und an ihrer Stelle müssten ihnen gesellschaftlich überlegende Personen „niedere Arbeiten“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3). Die Meinung Leß‘ und das standespolitische Bewusstsein setzten sich auch in der theologischen Fakultät durch. Die Kinder wurden aus Kostengründen im frühen 19. Jahrhundert auf die Pfarrschule der Marienkirche geschickt (Meumann 1997, S. 64). Somit wurden sie schulisch wie andere Gleichaltrige unterer Schichten gebildet.

Veränderungen im 19. Jahrhundert

Es wurde nun Wert darauf gelegt, den Waisenkindern neben der religiösen Prägung, vor allen Dingen handwerkliches Geschick mitzugeben. So bekamen die Mädchen ab 1840 nachmittags Handarbeitsunterricht von Helferinnen des Frauenvereins und die Jungen hatten vor dem Abendessen Sporteinheiten. Der Arbeitsdienst der Waisenkinder betrug nicht mehr wie in der frühen Phase des Hauses sechs bis sieben sondern drei Stunden. Es wurden nur noch Arbeiten im Haus verlangt, aber nicht mehr für die ansässigen Textilbetriebe und die Waisen hatten zwei bis drei Stunden freie Zeit (Meumann 1997, S. 65/66). Trotzdem war das Leben in einem Waisenhaus auch im 19. Jahrhundert durch einen streng geregelten Tagesablauf bestimmt. Es kam auch hier zu Fällen der Mangelernährung und sexuellen Übergriffen. Trotz verbesserten Hygienebedingungen waren Krankheiten an der Tagesordnung (Meumann 1997, S. 70-72). Waisenkinder waren zudem oft Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen, so gestaltete sich die Suche nach einer Lehrstelle oft schwierig (Meumann 1997, S. 69).

Die Zukunft der Waisenkinder

Die Jungen und Mädchen des Waisenhauses gingen nach ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus meistens der oben beschriebenen, ihrer Herkunft gemäßen Tätigkeit nach. Ein sozialer Aufstieg war für die ehemaligen Heimkinder nicht zu erwarten. In Einzelfällen wurden besonders begabte Jungen des Waisenhauses an ein Lehrerseminar vermittelt und auch finanziell unterstützt. Es ist nur vom Fall Georg Wilhelm Schulze bekannt, der eine Hochschullaufbahn einschlug, promovierte und ein beachteter Theologe und Schriftsteller wurde (Meumann 1997, S. 81-85).

Fazit

Das Waisenhaus war durch die Trägerschaft der Universität zwar eine Besonderheit. Jedoch hatten die Kinder im Vergleich zu anderen Waisenhäusern keine besseren Zukunftschancen. Das Ideal der Erziehung von Mitgliedern der „bürgerlichen Gesellschaft“ wurde zusehends weniger verfolgt und die meisten Kinder kamen nach ihrem Aufenthalt in diesem Haus wieder in ein oft verarmtes Umfeld zurück.

Stand: 31.01.2013

Literatur

Kuhn, Thomas (2003): Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen (=Beiträge zur historischen Theologie 122).

Lauer, Gerhard (2004): Rousseaus Kinder. Als die Kinderbücher laufen lernten, in: Nützliches Vergnügen. Kinder- und Jugendbücher der Aufklärungszeit aus dem Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Vordemann-Sammlung [Katalog zur Ausstellung in der Paulinerkirche Göttingen, vom 5. 12. 2004 – 20. 2. 2005], Göttingen.

Locke, John (1708), Unterricht von Erziehung der Kinder, Leipzig.

Meumann, Markus (1997): Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus. Das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, Göttingen.

Quellen

„Die neun und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1777.

„Die fünf und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1773.

Link

Nachricht von dem Göttingischen Waisenhause im Netz:

http://vd18.de/de-sub-vd18/periodical/titleinfo/21278950 (zuletzt eingesehen am 10.1.2013)

Die Siedlung im Ebertal

Gefangenenlager des Ersten Weltkrieges und spätere Notsiedlung

von Malina Polauke

Als Stadt in der Mitte des Deutschen Reiches war Göttingen während des Ersten Weltkrieges nicht direkt von Kriegshandlungen betroffen. Durch die Anweisung, Kriegsgefangene in Göttingen zu versammeln, und durch die damit verbundene Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers im Ebertal war der Krieg nach den ersten Monaten auch in Göttingen angekommen. In der Funktion als Kriegsgefangenenlager hatte die Siedlung im Ebertal bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bestand. In der Nachkriegszeit diente das Lager als Notsiedlung, unter anderem für aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte deutsche Soldaten und deren Familien. Bis zu ihrer „Beseitigung“ zu Beginn der 1960er Jahre wohnten in der Siedlung im Ebertal Göttinger Familien aus der Arbeiterschicht.

Das Gebiet des ehemaligen Lagers wird heute von den Straßen Wörthstraße, Breslauer Straße, Görlitzer Straße, Merkelstraße, Himmelsbreite und Beethovenstraße eingeschlossen.

Die Anfänge

Bereits im August 1914 trafen die ersten Kriegsgefangenen in Göttingen ein, die zunächst in Lazaretten an verschiedenen Orten in der Stadt untergebracht wurden. Schon wenig später folgte die Anweisung durch das Generalkommando des X. Armeekorps, dass in Göttingen insgesamt 10.000 Kriegsgefangene aufgenommen werden sollten und dass zu diesem Zweck ein Kriegsgefangenenlager errichtet werden müsste. Im Ebertal, auf einem circa 13 Hektar großen Gebiet hinter den städtischen Kasernen (siehe auch: Die Garnison zu Göttingen), einem früheren Weizenfeld, wurde durch eine Firma und mit der Arbeitskraft von 180 Kriegsgefangenen das Lager errichtet. Das Lager mit seinen insgesamt über 200 Baracken war an die Kanalisation und an das Gleichstromnetz der Stadt angeschlossen (Mirwald 1989, S. 89f.; Stange 1935, S. 130).

LageplanQuelle: Stadtarchiv Göttingen

Lageplan
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

Allgemeines

Das Lager war in drei große Bereiche aufgeteilt. Zum einen gab es das Alte Lager, welches mit insgesamt 150 Bauten den größten Teil des Gefangenenlagers darstellte. Darunter waren 84 Baracken, in denen die Kriegsgefangenen lebten. Diese waren jeweils in vier Räume eingeteilt, zwei für die Mannschaften und zwei für die Unteroffiziere. Zum anderen gab es ein Lazarett und Absonderungslager mit 22 Bauten, welches von dem Alten Lager abgesperrt war und wo die kranken Gefangenen untergebracht waren. Das Neue Lager wurde erst später erbaut und diente mit seinen 45 Bauten besonders der Unterbringung der Wachmannschaften (Mirwald 1989, S. 90; Mirwald 1989, „Lageplan zum Kriegsgefangenenlager“).

In dem Lager wurden viele verschiedene Nationalitäten untergebracht, so kamen die Kriegsgefangenen aus Frankreich, England, Russland, Italien, Belgien, Kanada, den USA und Afghanistan (Mirwald 1989, S. 90; Meinhardt 1975, S. 8).

Die Kriegsgefangenen hielten sich nicht den gesamten Tag im Gefangenenlager auf, sondern wurden für Arbeitsdienste in der Industrie, in der Landwirtschaft und bei gemeinnützigen Aufgaben eingesetzt. Da sich der größte Teil der arbeitenden deutschen Bevölkerung als Soldaten im Krieg befand und somit Engpässe in den Fabriken und Betrieben bestanden, waren die Kriegsgefangen gern gesehen und wurden für die Arbeitgeber schnell zu unverzichtbaren Arbeitskräften. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen niedrigen Lohn. Einige von ihnen kehrten für die Nacht nicht in das Gefangenenlager zurück, sondern erhielten in der Nähe ihrer Arbeitsstelle eine Unterkunft und wurden dort auch versorgt (Hasselhorn 1999, S. 64; Mirwald 1989, S. 96-98).

Der Arbeitskräftemangel machte sich überall im Deutschen Reich bemerkbar, beispielsweise waren am 1. August 1916 von den 1,6 Millionen Kriegsgefangenen mit 1,45 Millionen rund 90 Prozent beschäftigt. Diese wurden vor allem in der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in der Industrie eingesetzt. In diesem Punkt wurde mit den Kriegsgefangenen des Lagers im Ebertal also nicht anders umgegangen als mit den anderen Kriegsgefangenen des Deutschen Reiches (Oltmer 2006, S. 70; Mirwald 1989, S. 97).

Die flämischen Kriegsgefangenen

Erst durch die außenpolitischen Entwicklungen im Herbst 1915 änderte sich die Situation auch für das Kriegsgefangenenlager in Göttingen: Nach dem Feldzug in Serbien hofften die Deutschen auf einen baldigen Sieg. Damit verbunden entstand das Ziel, aufgrund der Spannungen zwischen Flandern und Wallonien, eine Teilung Belgiens zu erreichen und die Region Flandern als Herzogtum in das Deutsche Reich einzugliedern. Aus diesem Grund wurde bestimmt, dass mithilfe gezielter Propaganda die flämischen Kriegsgefangenen dazu gebracht werden sollten, der Teilung Belgiens und dem Anschluss an das Deutsche Reich freiwillig zuzustimmen (Meinhardt 1975, S. 8).

Deswegen wurde der größte Teil der flämischen Kriegsgefangenen an einem Ort versammelt – im Göttinger Ebertal (Mirwald 1989, S. 90). Unter diesen Gefangenen befanden sich etwa 135 gebildete Flamen, welche die vorher festgelegte „Aufklärungsarbeit“ leisten sollten. Für diese Flamen wurde im Lager eine Schule errichtet, die in Zusammenarbeit mit dem Theologieprofessor der Universität Göttingen, Carl Stange, sowie einigen seiner Mitarbeiter aufgebaut wurde. Diese flämischen Gefangenen konnten an Sprachkursen und Seminaren zur Geographie und Geschichte teilnehmen sowie Vorlesungen zur Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtskunde und zu Natur- und Handelswissenschaften besuchen (Mirwald 1989, S. 91; Hasselhorn 1999, S. 64). Für diesen Unterricht wurden Unterrichtssäle eingerichtet und außerdem entstand im Lager eine Bibliothek mit einem beachtlichen Bestand von rund 10.000 Bänden sowie Leseräumen (Meinhardt 1975, S. 9). Ab Herbst 1917 war diese Schule staatlich anerkannt und im Januar 1918 wurden die ersten Examina abgelegt (Mirwald 1989, S. 92; Hasselhorn 1999, S. 64).

Innenansicht mit GefangenenQuelle: Städtisches Museum Göttingen

Innenansicht mit Gefangenen
Quelle: Städtisches Museum Göttingen

Aber auch die weniger gebildeten Flamen konnten von einer angenehmen Behandlung profitieren: Sie lebten in neuen Baracken aus bestem Material. In ihrem Alltag konnten sie behagliche Ess- und Aufenthaltsräume sowie eine Kirchenbaracke nutzen. Für flämische Künstler wurden Ateliers und für flämische Schriftsteller Arbeitszimmer eingerichtet. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen geringen Arbeitslohn, seit 1917 in Form von neu eingeführtem Lagergeld. Damit konnten die Gefangenen im kleinen Warenhaus oder in der Buchhandlung des Lagers, in der auch Bücher aus Belgien verkauft wurden, einkaufen. Außerdem wurde den Flamen im Jahr 1918 zweimal erlaubt, große Feste zu feiern. Diese waren mit so starkem Lärm verbunden, dass es zu Beschwerden seitens der Göttinger Bevölkerung kam. Aus kultureller Hinsicht gab es im Lager unter anderem eine Kunstaustellung mit Werken flämischer Gefangener (Meinhardt 1975, S. 8f.).

Von deutscher Seite aus bemühte man sich, dass die Bevorzugung der Flamen unter den Gefangenen nicht zu stark auffiel. Fast jede Nationalitätengruppe konnte ein Orchester und eine Theatergruppe gründen, sodass es im Lager regelmäßig Vorführungen gab (Mirwald 1989, S. 93). Dass das Kriegsgefangenenlager in Göttingen für die Finanzierung der Privilegien für die Flamen einen monatlichen Beitrag von 200 Mark erhielt, sollte kein Kriegsgefangener erfahren, damit niemand misstrauisch würde (Mirwald 1989, S. 91). Außerdem wurden die flämischen Gefangenen nicht vom Arbeitsdienst ausgenommen; im Juli 1918 waren von den rund 2.400 Flamen des Lagers im Ebertal 1.952 bei verschiedenen Betrieben im Einsatz (Mirwald 1989, S. 96).

Misserfolg der Propaganda

Durch einen Blick in den Briefwechsel der flämischen Gefangenen mit ihren Angehörigen aus der Heimat konnten die deutschen Militärs den Eindruck gewinnen, dass die Propaganda in Flandern keine pro-deutsche Stimmung verbreitete. Es entstand sogar vielmehr der Eindruck, dass die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen geringer wurden (Mirwald 1989, S. 91).

Als die flämischen Gefangenen im Zuge der Bestimmungen des 2. Berner Abkommens vom 26. April 1918 die Möglichkeit hatten, sich nach Frankreich austauschen zu lassen, verließ ein Großteil der flämischen Kriegsgefangenen Göttingen und das Deutsche Reich (Hasselhorn 1999, S. 64). Nach dem Ende des Krieges kehrte der größte Teil der noch verbliebenen Flamen in ihre Heimat zurück. Nur einige wenige blieben in Göttingen, entweder weil bei ihnen die Propaganda gewirkt hatte oder aber weil sie in Belgien vor ein Kriegsgericht gestellt worden wären (Meinhardt 1975, S. 9; Mirwald 1989, S. 99f.).

Die Nutzung als Notsiedlung

Nach dem Ende des Krieges verließ der Großteil der Kriegsgefangenen zügig das Gefangenenlager. Zeitgleich kehrten aber auch deutsche Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die gemeinsam mit ihren Familien keine Unterkunft mehr hatten. Deswegen wurde entschieden, das ehemalige Kriegsgefangenenlager als Notsiedlung zu benutzen, in der 349 Familien leben sollten (Mirwald 1989, S. 99f.). Um eine günstigere Lage zum Hang zu erreichen, wurden die Baracken zerlegt und leicht versetzt wieder aufgebaut. In den folgenden Jahren wurden an den Baracken Sanierungen vorgenommen. Unter anderem wurden die Mauern und Decken wärmeisoliert und die Baracken erhielten Spültoiletten und Kohleöfen. Darüber hinaus wurden sie teilweise unterkellert und konnten an das Stromnetz angeschlossen werden (Paine 1983, S. 184f.). Es ist wohl ungewöhnlich, dass ein ehemaliges Gefangenenlager als Notsiedlung verwendet wurde und aufgrund der Sanierungen sogar als einfache Siedlung bezeichnet werden kann. Es kann daran liegen, dass die Wohnungslage so schlecht war, dass keine andere Wahl blieb als die Baracken zu nutzen. Man kann aber auch vermuten, dass die Baracken, speziell diejenigen, die von den Flamen bewohnt waren, eine so gute Qualität aufwiesen, dass sich die Verantwortlichen gegen einen Abriss entschieden.

Im Laufe der Jahre erhielt die Siedlung „einen eher ländlichen Charakter“. Neben den kleinen Gärten, die zu jeder Wohnung gehörten, gab es am Rand des Ebertals weitere Grünflächen, die von den Bewohner beantragt werden konnten, sowie Stallungen zur Haltung von Tieren. Trotz der ständigen Verbesserungen und Neuerungen in der Siedlung hatte der Großteil der Göttinger Bevölkerung eine eher negative Haltung gegenüber der Siedlung im Ebertal. Diese Meinung wurde durch die Tatsache, dass es sich um „das alte Gefangenenlager“ handelte, durch falsche Annahmen über die Ausstattung der einzelnen Baracken sowie durch den „ländlichen Charakter“ der Siedlung hervorgerufen (Paine 1983, S. 185).

Vom Wohnungsmangel zum Wohnungsbau – der Abriss der Baracken

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man wieder eine Ausnahmesituation. In Göttingen war „die Einwohnerzahl […] im Jahr 1950 als Folge des Flüchtlingszustroms um rund 57% gegenüber dem Vorkriegsstand angestiegen“. Dies hatte einen großen Mangel an Wohnungen zur Folge. Erst mit dem Beginn der 1960er Jahre und dem „sozialen Wohnungsbau“ wurden Wohnungsbauprojekte realisiert, welche die Lage allmählich entspannten. Ab dem Jahr 1961 war von diesen Veränderungen auch die Siedlung im Ebertal betroffen (Trittel 1999, S. 308-310). Als Grund für die Maßnahme wurde unter anderem das Alter der Baracken angegeben, die nun schon seit über 40 Jahren bestanden und somit das einzige noch bestehende Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg darstellten. Dennoch waren die Meinungen in der Göttinger Bevölkerung zur Sanierung im Ebertal sehr verschieden. So wurde zum Beispiel kritisiert, dass zur Zeit einer so angespannten Wohnungslage bewohnbare Unterkünfte ersetzt werden sollten (Paine 1983, S. 191f.).

Mit diesem Sanierungsprogramm verschwand die Siedlung im Ebertal. Die Baracken aus dem Ersten Weltkrieg mussten neuen Wohnblocks weichen, die das Stadtbild im Ebertal heutzutage immer noch prägen (Paine 1983, S. 195).

Literaturverzeichnis

Hasselhorn, Fritz (1999): Göttingen 1917/18-1933, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 63-126.

Meinhardt, Günther (1975): Das Gefangenen-Lager im Ebertal, in: Göttinger Monatsblätter 18 (August 1975), S. 8-9.

Mirwald, Christa (1989): Ausländer in Göttingen – von 1914 bis heute, in: Schmeling, Hans-Georg (Hrsg.): 100 Jahre Göttingen und sein Museum. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Alten Rathaus 1. Oktober 1989 – 7. Januar 1990, Göttingen, S. 89-116.

Oltmer, Jochen (2006): Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914-1918, in: Ders. (Hrsg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs (Krieg in der Geschichte 24), Paderborn [u.a.], S. 67-96.

Paine, Norton (1983): Die Siedlung Ebertal/Himmelsbreite in Göttingen. Stimmen zum Problem der Sanierung eines Göttinger Stadtviertels, in: Göttinger Jahrbuch 1983, S. 183-216.

Stange, Carl (1935): Das Kriegsgefangenenlager in Göttingen, in: Saathoff, Albrecht (Hrsg.): Göttinger Kriegsgedenkbuch 1914-1918, Göttingen, S. 130-135.

Trittel, Günter J. (1999): Göttingens Entwicklung seit 1948, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 291-356.

Stand: 03.02.2013

Das Accouchierhaus

von Leonhard Link

Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts waren Professoren der Universität Göttingen um die Entstehung und Konsolidierung einer akademischen Wissenschaft des Entbindens bemüht. In den 1790er Jahren wurde in der Universitätsstadt die erste explizit für diesen Zweck vorgesehene universitäre Entbindungsklinik im deutschen Sprachraum errichtet. Das  heutige Gebäude des Musikwissenschaftlichen Seminars in der Kurzen Geismarstraße beherbergte seit seiner Errichtung im ausgehenden 18. Jahrhundert (1785-91)  für gut hundert Jahre die Entbindungsklinik der Universität Göttingen.

Bereits vier Jahrzehnte zuvor war der Bau des am gleiche Ort befindlichen Heilig-Kreuz-Hospitals auf Initiative Albrecht von Hallers partiell umfunktioniert worden, um dem gerade nach Göttingen berufenen außerordentlichen Professor der Medizin, Johann Georg Roederer (1726-1763), Räumlichkeiten für Entbindungen zur Verfügung zu stellen (Schlumbohm 2012, S. 13-15). Die im Hospital erfolgenden Geburten sollten einerseits daserfahrungswissenschaftlich fundierte akademische Entbindungswesen etablieren und konsolidieren helfen. Andererseits sollte den Studenten der 1737 gegründeten Universität sowie einer marginalen Zahl an Hebammenschülerinnen praktische Ausbildung zuteilwerden. Sie sahen bei den Geburten zu und ausgewählte Studenten durften auch selbst Hand anlegen (Schlumbohm 2012, S. 20-21). Die Anfänge der ärztlich-akademischen Geburtshilfe in Göttingen standen also ganz im Geiste der Aufklärung. Der aus jahrhundertelanger Praxis gewonnen Erfahrung der Hebammen stand man misstrauisch gegenüber und setzte es sich zum Ziel, durch Beobachtung gewonnenes, „rationales“ und nicht zuletzt männliches Wissen zur Grundlage der Entbindungskunst zu machen (Schlumbohm 2012,S. 10-13). Die weibliche Domäne der Geburtshilfe wurde so Gegenstand eines Prozesses der Medikalisierung, der mit einer professoral-akademischen Maskulinisierung korrespondierte.

Bild Accouchierhaus

Das im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts errichtete Accouchierhaus in der Kurzen Geismarstraße. (Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Accouchierhaus_Goettingen_%28Stammbuchblatt%29.jpg)

Der Bau des Accouchierhauses

Bereits Roederer, der in seiner nach nur zwölf Jahren durch einen frühen Tod beendeten Amtszeit die Entbindung von 232 Geburten im Heilig-Kreuz-Hospital geleitet hatte, beklagte sich wiederholt über Platzmangel und den desolaten baulichen Zustand des Krankenhauses (Wehl 1931, S. 5). Doch auch unter der Leitung seines Nachfolgers Heinrich August Wrisberg blieben die baulichen Probleme weiter bestehen. Erst in der Amtszeit des jungen Professors Johann Friedrich Fischer (1759-1814), der 1782 nach Göttingen berufen wurde, sollte der Bau eines neuen „Accouchierhauses“ Abhilfe verschaffen (Kuhn u.a. 1987, S. 176). Die gleichzeitige Unterbringung von bis zu vierzehn Schwangeren sollte so möglich werden (Schlumbohm 2012, S. 286).
Fischer, der durch eine mehrere Jahre andauernde Reise Einblick in Hospitäler und Geburtskliniken in unterschiedlichen Regionen Europas erhalten hatte, war hinsichtlich der Planung für das Göttinger Gebäude vor allem durch den Kasseler Geburtshelfer Georg August Stein beeinflusst (Schlumbohm 2012, S. 26-28). Nun musste Überzeugungsarbeit hinsichtlich der Finanzierung geleistet werden. Für die Zustimmung vonseiten der königlich-hannoverschen Regierung waren vor allem bevölkerungspolitische Argumente ausschlaggebend: Von der Senkung der Kinder- und Müttersterblichkeit, die man sich von einer Institutionalisierung des ärztlichen Entbindungswesens versprach, erhoffte man sich ein für die militärische Stärke als notwendig interpretiertes Bevölkerungswachstum (Schlumbohm 1988, S. 154).

Kostengünstig war die zwischen 1785 und 1791 errichtete, luxuriös anmutende Entbindungsklinik nicht. Gigantische Flure, hohe Decken und ein ausladendes Treppenhaus sollten eine gute Belüftung gewährleisten und so der Gesundheit der Patientinnen förderlich sein. Zudem war das obere Stockwerk als Wohnung des Direktors vorgesehen (Schlumbohm 1988, S. 151). Angesichts alternativer Karriereperspektiven bewohnte Fischer die Direktorenwohnung jedoch nur ein Jahr lang.

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Unterschiedliche Anwendungen der Geburtszange nach Friedrich Benjamin Osiander. (Quelle:
Kuhn, Walther; Tröhler, Ulrich; Teichmann, Alexander; Deinhard, M. (1987), Armamentarium obstetricium Gottingense. Eine historische Sammlung zur Geburtsmedizin, Göttingen, S. 88.)

Die Entbindungsklinik unter Friedrich Benjamin Osiander

Sein Nachfolger wurde Friedrich Benjamin Osiander (1759-1822), der in seinem 30 Jahre währenden Direktorat die Zahl der Geburten in die Höhe trieb. Osiander, der schon seit geraumer Zeit als selbstständiger Arzt eine Praxis für Geburtshilfe führte, war in Fachkreisen bereits durch mehrere „entbindungswissenschaftliche“ Publikationen bekannt (Schlumbohm 2012, S. 57-68). Zunehmend berüchtigt wurde Osiander durch den exzessiven Gebrauch der Geburtszange , worauf – so Osianders Wortwahl – „so manche Hebamme und so manches einfältige Weib“ mit „Vorurteilen“ reagierte (Schlumbohm 2012, S. 69). Von den 2540 durch Osiander geleiteten Geburten in der Entbindungsklinik entschied er, dass nur knapp mehr als die Hälfte „der Natur überlassen“ werden sollten – sie fielen somit in den Zuständigkeitsbereich der Hebammen – während die verbleibenden 1016 Geburten mithilfe der Zange und somit durch Männer durchgeführt wurden. Neben einigen wenigen Hebammenschülerinnen waren meist um die 20 Studenten bei diesen Geburten anwesend, einige durften bei den Untersuchungen helfen bzw. den Gebrauch der Zange einüben. (Schlumbohm 1988, S. 156)

Als besonders schockierend empfanden schon Osianders Zeitgenossen seine instrumentelle Haltung zu den Patientinnen des Accouchierhauses. Explizit formulierte Osiander, dass die gebärenden Frauen der Klinik und der Wissenschaft zu dienen hatten. Selbst die Leichen der verstorbenen Mütter und Säuglinge (knapp 13% starben bei der Geburt oder kamen tot zur Welt) (Schlumbohm 2012, S. 435) versuchte Osiander für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen. Man sezierte die toten Körper oder präparierte verstorbene Föten, um sie als Puppen für Übungen am „Phantom“ (einem dem weiblichen Unterleib nachempfundenen Modell) zu nutzen bzw. nahm sie in die Sammlung der Klinik auf (Schlumbohm 1988, S. 159).

Die Patientinnen

Doch wer waren die Frauen, die ihre Kinder im Göttinger Accouchierhaus zur Welt brachten? Welche Motive bildeten die Grundlage für diese zur damaligen Zeit unübliche Entscheidung?

Osiander selbst berief sich auf die Offenheit des Hospitals: „jede Schwangere, Verheuratete und Unverheuratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin“ (Schlumbohm 2012, S. 279) sei als Patientin willkommen. Ausgeschlossen waren nur Frauen, die an ansteckenden Krankheiten litten (Schlumbohm 2012, S. 296). Tatsächlich waren die Schwangeren, die die Klinik aufsuchten, von breit gestreuter geographischer Herkunft und, hiermit in Zusammenhang stehend, unterschiedlichen religiösen Bekenntnisses.
Ihre soziale Herkunft jedoch war fast ausnahmslos gleich. Fast alle Frauen waren als Magd oder Dienstmädchen tätig. Zudem waren sie fast durchweg ledig, nach damaliger Vorstellung war ihre Schwangerschaft somit illegitim. Gerade einkommensschwache Frauen, die nicht auf die Hilfe eines Ehemanns rechnen konnten, entschieden sich also für die Entbindung im Accouchierhaus (Schlumbohm 2012, S. 279-286). Hier wurden ihnen kostenlose Verpflegung und Wohnraum zur Verfügung gestellt, zudem mussten sie nur leichte Arbeiten verrichten. Auch religiöse Motivationen mögen für ledige Schwangere in prekären Verhältnissen relevant gewesen sein. Im Betzimmer im Erdgeschoss des Gebäudes konnten sie die „Kirchenbuße“ tun, eine für uneheliche Schwangerschaften verlangte Handlung, die in den Gemeinden normalerweise öffentlich praktiziert wurde und neben stigmatisierenden Wirkungen auch eine Geldstrafe abverlangte, die im Kontext der Entbindungsklinik entfiel (Schlumbohm 1988, S. 152-153).

Für diese Leistungen hatten die schwangeren Frauen jedoch durchaus einen Preis zu zahlen. Weitestgehend ihrer Handlungsfähigkeit beraubt, wurden sie mit der Aufnahme ins Hospital zu Objekten einer Wissenschaft gemacht, die noch in den Kinderschuhen steckte. Schon bei der Aufnahme wurden die Frauen einer vermutlich als peinlich empfunden körperlichen Inspektion durch den männlichen Geburtshelfer unterzogen (Schlumbohm 2012, S. 399). Später folgten zweimal wöchentlich stattfindende Untersuchungen durch Studenten. Den häufigen Gebrauch der 40 cm großen Zange bei der unter Anwesenheit von Studenten stattfindenden Geburt begründete Osiander allein mit der Aussage, dies sei „zum Unterricht und zur Übung der Studenten“ notwendig (Schlumbohm 1988, S. 156-157). Nicht das Wohl der Schwangeren und des Kindes als Individuen stand im Vordergrund, sondern der kollektive Fortschritt der Wissenschaft.

Vom Accouchierhaus zur Frauenklinik

Bis zu seinem Tod im Alter von 63 Jahren reduzierte Osiander die Zahl der durch künstliche Hilfe durchgeführten Geburten jedoch zunehmend. Nachdem sein Sohn die Leitung des Hospitals vorübergehend übernommen hatte, erfolgte unter dem Direktorat Ludwig Julius von Mendes (1779-1832) eine Einbeziehung der Behandlung von nicht mit der Schwangerschaft in Zusammenhang stehenden spezifisch weiblichen Krankheiten in den Tätigkeitsbereich der Entbindungsklinik. So beschäftigte sich Mende etwa mit der Therapie des Gebärmutterhalskrebses, eine Thematik, die auch zum Gegenstand der Lehre werden sollte (Kuhn u.a. 1987, S. 180). Die gerade im Entstehen begriffene Gynäkologie hielt so Einzug in das Göttinger Hospital. Die Entwicklung vom Accouchierhaus zur Universitätsfrauenklinik kündigte sich an (Seidel 1998, S. 308-312).
Mendes Nachfolger, Eduard Caspar Jacob von Siebold (1801-1861), etablierte in den 50er Jahren eine bahnbrechende Neuerung der Medizin in der Praxis des Göttinger Accouchierhauses. Die Erfindung der Äthernarkose wurde nun für Kaiserschnitte nutzbar gemacht (Kuhn u.a. 1987, S. 181). Für die Mutter war diese Operation jedoch in den meisten Fällen immer noch tödlich (Seidel 1998, S. 362). Erst in den 1870er Jahren sollte die Einführung antiseptischer Wundbehandlungen in Geburtshilfe und Gynäkologie sowie die parallele Entwicklung neuer operativer Techniken eine realistische Überlebenschance der per Kaiserschnitt operierten Frauen ermöglichen (Kuhn u.a. 1987, S. 182-183).

Unter Leitung Max von Runges entschloss man sich am Ende des 19. Jahrhunderts, das Gebäude in der Kurzen Geismarstraße zu verlassen. Nicht zuletzt angesichts der Erweiterung des Zuständigkeitsbereiches der Klinik um die sich konsolidierende Gynäkologie war das alte Accouchierhaus zu klein geworden. Der 1896 bezogene Neubau in der Humboldtallee (inzwischen: Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin) beherbergt noch heute die von Roederer im 18. Jahrhundert begründete geburtsmedizinische Sammlung (Kuhn u.a. 1987, S. 183).

Literatur:

Schlumbohm, Jürgen (1988), Ledige Mütter als „lebendige Phantome“ – oder: Wie die Geburtshilfe aus einer Weibersache zur Wissenschaft wurde, in: Kornelia Duwe, Carola Gottschalk und Marianne Koerner (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen, S. 150–159.

Kuhn, Walther; Tröhler, Ulrich; Teichmann, Alexander; Deinhard, M. (1987), Armamentarium obstetricium Gottingense. Eine historische Sammlung zur Geburtsmedizin, Göttingen.

Schlumbohm, Jürgen (2012), Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751-1830, Göttingen.

Seidel, Hans-Christoph (1998), Eine neue „Kultur des Gebärens“. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart.

Wehl, Hans (1931), Die Entwicklung der Geburtshilfe und Gynäkologie an Hand der Geschichte der Göttinger Universitäts-Frauenklinik in den Jahren 1751 – 1861, Göttingen. Univ. Diss.