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Das Universitätswaisenhaus

Zwischen Aufklärung und Arbeitserziehung

von Larissa Klick

Heute wirkt das Gebäude „Untere-Masch-Straße 3“ am Westrand der Göttinger Innenstadt recht unscheinbar, wie eine der vielen als Wohnhaus genutzten Altbauten. Jedoch beherbergte es noch bis weit in die Weimarer Republik hinein eine Besonderheit, die die Göttinger Universität von anderen unterscheidet: Ein Waisenhaus, welches bis zu seiner Schließung der Theologischen Fakultät unterstellt war. Wie es zur Errichtung eines solch speziellen Hauses kam, inwiefern es sich von anderen Einrichtungen unterschied und wer die Kinder waren, die im Göttinger Universitätswaisenhaus aufwuchsen, soll im Folgenden erläutert werden.

Von der Armenschule zum Waisenhaus

Schon 1737, im Gründungsjahr der Universität, war in Göttingen eine Armenschule von dem begüterten Studenten Reichsgraf Heinrich XI. Reuß gestiftet worden. Die hannoversche, königliche Regierung übertrug daraufhin der theologischen Fakultät die Aufsicht der Schule und gab den Auftrag, die Kinder mit Hilfe „heilsamen Unterrichts“ (zit. nach Meumann 1997, S. 25/26) zu erziehen. Die Stiftung des Grafen geschah möglicherweise auf Betreiben seines pietistisch geprägten Erziehers Mühlenberg (Meumann 1997, S. 28-31). Die pietistische Erziehung von Armen war ein zentrales Projekt des in Halle tätigen August Herrmann Franckes (1663-1727), dessen Predigten zum Thema Nächstenliebe Anfang des 18. Jahrhunderts viel Beachtung geschenkt wurden. Franckes Konzept beeinflusste die Erziehung in der Armenfürsorge in anderen Städten. Ein erklärtes Ziel war es, Kinder aus verarmten Familien so früh wie möglich durch Disziplin zu einer Gemeinschaft mit Gott und anderen Christen bzw. weg von der Verwahrlosung zu führen (Kuhn 2003, S. 43-45).

Ein an die Armenschule gebundenes Haus für Waisen gab es seit 1743. Dort wurden sechs bis acht Jungen von einer Waisenmutter betreut und umsorgt. Der Bedarf war jedoch größer und nach einer weiteren Stiftung, diesmal von einem Adligen aus dem nahegelegenen Einbeck und einer weiteren königlichen Genehmigung, wurde ein großes Grundstück gekauft. Das Gebäude in der Unteren-Masch-Straße war 1750 bezugsfertig und schon 1751 lebten 22 Kinder in dem neuerrichteten Waisenhaus. Der Bau wurde finanziell durch private Großspenden von Göttingern und von auswärts, aber auch durch Kleinspenden, Sachspenden und unentgeltliche Leistungen von Bürgern unterstützt (Meumann 1997, S. 42-45). In den folgenden Jahren wurde so gewirtschaftet, dass das Waisenhaus fast autark haushielt. Die recht begüterte Institution blieb bis ins 20. Jahrhundert finanziell unabhängig und wurde durch regelmäßige Spenden unterstützt. Die theologische Fakultät war zwar Träger des Waisenhauses, jedoch hielt sich ihr Einfluss und finanzielle Unterstüztung in Grenzen (Meumann 1997, S. 48).

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Universitätsarchiv Göttingen

Das Universitätswaisenhaus in der Unteren-Masch-Straße, um 1900, Fotoarchiv der SUB Göttingen

Die Kinder des Waisenhauses

Schon vor der Errichtung waren die Rechte des Waisenhauses daran gekoppelt, dass man Bürgerkinder bei der Aufnahme bevorzugte. Das hatten die Räte der Stadt nach Verhandlungen mit der Fakultät, den Bürgervorstehern und Gildemeister als Bedingung für die Unterstützung des Hauses festlegt (Meumann 1997, S. 44). Die Versorgung und standesgerechte Erziehung jener war demnach auch das Ziel der Einrichtung. Jedoch entstand dadurch ein Konflikt, der in den nächsten Abschnitten noch erläutert wird.

Trotz weniger Zeugnisse über die Herkunft der Waisenkinder, ist bekannt, dass vielfach Kinder von Göttinger Witwen aufgenommen wurden. Der Vater entstammte oft einer Handwerkerfamilie, somit ursprünglich aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen, hatte jedoch dann in verarmten Verhältnissen gelebt. Kein Elternteil, falls einer noch lebte, und auch keine andere verwandte Person waren im Stande, die Kinder zu versorgen. Aufgenommen wurden ehelich gezeugte, bis 1840 ausschließlich evangelische Kinder aus Göttingen ab einem Alter von 6 Jahren, da die Säuglings- und Kleinkinderpflege zu kosten- und zeitintensiv war. Die Entlassung aus der Institution sollte nach der Konfirmation, später erst nach dem ersten Lehrjahr erfolgen (Meumann 1997, S. 75-77, 81). Die Zahl der bedürftigen Kinder ist viel höher einzuschätzen, als die die tatsächlich im Waisenhaus unterkamen, da die Aufnahmekriterien wie beschrieben streng waren.

Die Kinder zur Arbeit erziehen

In der Ständegesellschaft des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts waren die im Waisenhaus lebenden Kinder dazu bestimmt, später in den Stand ihrer zu meist verarmten Eltern zurückzukehren. Die Jungen sollten somit wieder Handwerkergesellen werden und die Mädchen später bis zu ihrer Hochzeit als Magd oder in der ansässigen Textilverarbeitung als Spinnerinnen arbeiten. Der Heimalltag bereitete sie insofern auf dieses Leben vor, als ein Pfeiler in der Heimerziehung des 18. Jahrhunderts die Erziehung zur Arbeit war. Die Waisenkinder hatten in ihrem Tagesablauf feste Arbeitsstunden integriert, in denen sie Aufgaben im Haus und in der heimeigenen Spinnerei wahrnahmen. Sie sollten dadurch an Arbeit gewöhnt werden, etwas zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen, aber auch auf diese Weise Gott dienen. Zu letzterem ist zu sagen, dass die Heranführung an ein religiöses Leben für die Erziehung besonders auch für die Heimerziehung dieser Zeit eine zentrale Rolle hatte. So wurden während der nachmittäglichen Arbeit auch Texte aus Sittenbüchern vorgelesen und besprochen (Meumann 1997, S. 62-64).

Die Waisenkinder zu kleinen Denkern machen?

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Deckbalt der “neun und zwanzigsten Nachrichten von dem göttingischen Waisenhause”, 1777, s. Link unten

Eine schulische Erziehung als Vorbereitung auf das zukünftige Leben der Heimkinder schien aus den oben beschriebenen Erwartungen sinnvoll, musste aber nicht über eine primäre Bildung im Bereich des Schreibens, Lesens, Rechnens und etwas religiöser Schulung hinausgehen. Dennoch entstand ein Konflikt, wie die Bildung der Waisenkinder aussehen sollte. Einerseits definierte der Dekan der theologischen Fakultät Miller 1777 als Ziel, die Waisen zu „guten und glücklichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft“ (Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause 1777, 7) zu erziehen. Er wollte die Kinder im Universitätswaisenhaus Vernunft und eigenständiges Denken lehren. Die aufklärerischen Erziehungsansätze der Empfindsamkeit und des Philosophen John Locke (vgl. Locke 1708) sind in diesem Konzept wieder zu finden. Locke sah den Menschen als „ein unbeschriebenes Blatt“ (Lauer 2004, S. 20), der früh mit seiner eigenen Vernunft vertraut gemacht werden solle, um diese zu benutzen. Von den Anstaltslehrern, die manchmal selbst noch Studenten der Theologie waren, wurden sie nicht nur primär geschult, sondern auch Fächer wie Alt-Griechisch, Latein, Französisch sind in Stundenplänen und Prüfungsnotizen belegt. Auch wurde von Miller darum gebeten, ebenfalls Kalligraphie, Ökonomie und Naturwissenschaften zu lehren (Lauer 2004, S. 78-80). Die Waisenkinder hättem durch diese Ausbildung also das Rüstzeug zu einer Gelehrtenlaufbahn bekommen. In der Realität war das jedoch nicht der Fall.

Es setzte sich die schon früher vom vorigen Dekan Leß geäußerte Meinung durch, dass die Ständegesellschaft nicht „vieler nützlicher Glieder beraubt“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3) werden dürfe. Leß fürchtete, dass Handwerkers- und Bauernsöhne sich nach allzuviel humanistischer Bildung zu viel Wissen und Gelehrsamkeit angeeignet hätten: Sie würden sich dann vielleicht nicht wieder in die Gesellschaft einfügen und an ihrer Stelle müssten ihnen gesellschaftlich überlegende Personen „niedere Arbeiten“ (Nachricht des Göttinigischen Waisen-Hauses 1773, S. 3). Die Meinung Leß‘ und das standespolitische Bewusstsein setzten sich auch in der theologischen Fakultät durch. Die Kinder wurden aus Kostengründen im frühen 19. Jahrhundert auf die Pfarrschule der Marienkirche geschickt (Meumann 1997, S. 64). Somit wurden sie schulisch wie andere Gleichaltrige unterer Schichten gebildet.

Veränderungen im 19. Jahrhundert

Es wurde nun Wert darauf gelegt, den Waisenkindern neben der religiösen Prägung, vor allen Dingen handwerkliches Geschick mitzugeben. So bekamen die Mädchen ab 1840 nachmittags Handarbeitsunterricht von Helferinnen des Frauenvereins und die Jungen hatten vor dem Abendessen Sporteinheiten. Der Arbeitsdienst der Waisenkinder betrug nicht mehr wie in der frühen Phase des Hauses sechs bis sieben sondern drei Stunden. Es wurden nur noch Arbeiten im Haus verlangt, aber nicht mehr für die ansässigen Textilbetriebe und die Waisen hatten zwei bis drei Stunden freie Zeit (Meumann 1997, S. 65/66). Trotzdem war das Leben in einem Waisenhaus auch im 19. Jahrhundert durch einen streng geregelten Tagesablauf bestimmt. Es kam auch hier zu Fällen der Mangelernährung und sexuellen Übergriffen. Trotz verbesserten Hygienebedingungen waren Krankheiten an der Tagesordnung (Meumann 1997, S. 70-72). Waisenkinder waren zudem oft Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen, so gestaltete sich die Suche nach einer Lehrstelle oft schwierig (Meumann 1997, S. 69).

Die Zukunft der Waisenkinder

Die Jungen und Mädchen des Waisenhauses gingen nach ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus meistens der oben beschriebenen, ihrer Herkunft gemäßen Tätigkeit nach. Ein sozialer Aufstieg war für die ehemaligen Heimkinder nicht zu erwarten. In Einzelfällen wurden besonders begabte Jungen des Waisenhauses an ein Lehrerseminar vermittelt und auch finanziell unterstützt. Es ist nur vom Fall Georg Wilhelm Schulze bekannt, der eine Hochschullaufbahn einschlug, promovierte und ein beachteter Theologe und Schriftsteller wurde (Meumann 1997, S. 81-85).

Fazit

Das Waisenhaus war durch die Trägerschaft der Universität zwar eine Besonderheit. Jedoch hatten die Kinder im Vergleich zu anderen Waisenhäusern keine besseren Zukunftschancen. Das Ideal der Erziehung von Mitgliedern der „bürgerlichen Gesellschaft“ wurde zusehends weniger verfolgt und die meisten Kinder kamen nach ihrem Aufenthalt in diesem Haus wieder in ein oft verarmtes Umfeld zurück.

Stand: 31.01.2013

Literatur

Kuhn, Thomas (2003): Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen (=Beiträge zur historischen Theologie 122).

Lauer, Gerhard (2004): Rousseaus Kinder. Als die Kinderbücher laufen lernten, in: Nützliches Vergnügen. Kinder- und Jugendbücher der Aufklärungszeit aus dem Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Vordemann-Sammlung [Katalog zur Ausstellung in der Paulinerkirche Göttingen, vom 5. 12. 2004 – 20. 2. 2005], Göttingen.

Locke, John (1708), Unterricht von Erziehung der Kinder, Leipzig.

Meumann, Markus (1997): Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus. Das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, Göttingen.

Quellen

„Die neun und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1777.

„Die fünf und zwanzigst Nachricht von dem Göttingischen Waisen-Hause“, Göttingen 1773.

Link

Nachricht von dem Göttingischen Waisenhause im Netz:

http://vd18.de/de-sub-vd18/periodical/titleinfo/21278950 (zuletzt eingesehen am 10.1.2013)

Die Siedlung im Ebertal

Gefangenenlager des Ersten Weltkrieges und spätere Notsiedlung

von Malina Polauke

Als Stadt in der Mitte des Deutschen Reiches war Göttingen während des Ersten Weltkrieges nicht direkt von Kriegshandlungen betroffen. Durch die Anweisung, Kriegsgefangene in Göttingen zu versammeln, und durch die damit verbundene Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers im Ebertal war der Krieg nach den ersten Monaten auch in Göttingen angekommen. In der Funktion als Kriegsgefangenenlager hatte die Siedlung im Ebertal bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bestand. In der Nachkriegszeit diente das Lager als Notsiedlung, unter anderem für aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte deutsche Soldaten und deren Familien. Bis zu ihrer „Beseitigung“ zu Beginn der 1960er Jahre wohnten in der Siedlung im Ebertal Göttinger Familien aus der Arbeiterschicht.

Das Gebiet des ehemaligen Lagers wird heute von den Straßen Wörthstraße, Breslauer Straße, Görlitzer Straße, Merkelstraße, Himmelsbreite und Beethovenstraße eingeschlossen.

Die Anfänge

Bereits im August 1914 trafen die ersten Kriegsgefangenen in Göttingen ein, die zunächst in Lazaretten an verschiedenen Orten in der Stadt untergebracht wurden. Schon wenig später folgte die Anweisung durch das Generalkommando des X. Armeekorps, dass in Göttingen insgesamt 10.000 Kriegsgefangene aufgenommen werden sollten und dass zu diesem Zweck ein Kriegsgefangenenlager errichtet werden müsste. Im Ebertal, auf einem circa 13 Hektar großen Gebiet hinter den städtischen Kasernen (siehe auch: Die Garnison zu Göttingen), einem früheren Weizenfeld, wurde durch eine Firma und mit der Arbeitskraft von 180 Kriegsgefangenen das Lager errichtet. Das Lager mit seinen insgesamt über 200 Baracken war an die Kanalisation und an das Gleichstromnetz der Stadt angeschlossen (Mirwald 1989, S. 89f.; Stange 1935, S. 130).

LageplanQuelle: Stadtarchiv Göttingen

Lageplan
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

Allgemeines

Das Lager war in drei große Bereiche aufgeteilt. Zum einen gab es das Alte Lager, welches mit insgesamt 150 Bauten den größten Teil des Gefangenenlagers darstellte. Darunter waren 84 Baracken, in denen die Kriegsgefangenen lebten. Diese waren jeweils in vier Räume eingeteilt, zwei für die Mannschaften und zwei für die Unteroffiziere. Zum anderen gab es ein Lazarett und Absonderungslager mit 22 Bauten, welches von dem Alten Lager abgesperrt war und wo die kranken Gefangenen untergebracht waren. Das Neue Lager wurde erst später erbaut und diente mit seinen 45 Bauten besonders der Unterbringung der Wachmannschaften (Mirwald 1989, S. 90; Mirwald 1989, „Lageplan zum Kriegsgefangenenlager“).

In dem Lager wurden viele verschiedene Nationalitäten untergebracht, so kamen die Kriegsgefangenen aus Frankreich, England, Russland, Italien, Belgien, Kanada, den USA und Afghanistan (Mirwald 1989, S. 90; Meinhardt 1975, S. 8).

Die Kriegsgefangenen hielten sich nicht den gesamten Tag im Gefangenenlager auf, sondern wurden für Arbeitsdienste in der Industrie, in der Landwirtschaft und bei gemeinnützigen Aufgaben eingesetzt. Da sich der größte Teil der arbeitenden deutschen Bevölkerung als Soldaten im Krieg befand und somit Engpässe in den Fabriken und Betrieben bestanden, waren die Kriegsgefangen gern gesehen und wurden für die Arbeitgeber schnell zu unverzichtbaren Arbeitskräften. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen niedrigen Lohn. Einige von ihnen kehrten für die Nacht nicht in das Gefangenenlager zurück, sondern erhielten in der Nähe ihrer Arbeitsstelle eine Unterkunft und wurden dort auch versorgt (Hasselhorn 1999, S. 64; Mirwald 1989, S. 96-98).

Der Arbeitskräftemangel machte sich überall im Deutschen Reich bemerkbar, beispielsweise waren am 1. August 1916 von den 1,6 Millionen Kriegsgefangenen mit 1,45 Millionen rund 90 Prozent beschäftigt. Diese wurden vor allem in der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in der Industrie eingesetzt. In diesem Punkt wurde mit den Kriegsgefangenen des Lagers im Ebertal also nicht anders umgegangen als mit den anderen Kriegsgefangenen des Deutschen Reiches (Oltmer 2006, S. 70; Mirwald 1989, S. 97).

Die flämischen Kriegsgefangenen

Erst durch die außenpolitischen Entwicklungen im Herbst 1915 änderte sich die Situation auch für das Kriegsgefangenenlager in Göttingen: Nach dem Feldzug in Serbien hofften die Deutschen auf einen baldigen Sieg. Damit verbunden entstand das Ziel, aufgrund der Spannungen zwischen Flandern und Wallonien, eine Teilung Belgiens zu erreichen und die Region Flandern als Herzogtum in das Deutsche Reich einzugliedern. Aus diesem Grund wurde bestimmt, dass mithilfe gezielter Propaganda die flämischen Kriegsgefangenen dazu gebracht werden sollten, der Teilung Belgiens und dem Anschluss an das Deutsche Reich freiwillig zuzustimmen (Meinhardt 1975, S. 8).

Deswegen wurde der größte Teil der flämischen Kriegsgefangenen an einem Ort versammelt – im Göttinger Ebertal (Mirwald 1989, S. 90). Unter diesen Gefangenen befanden sich etwa 135 gebildete Flamen, welche die vorher festgelegte „Aufklärungsarbeit“ leisten sollten. Für diese Flamen wurde im Lager eine Schule errichtet, die in Zusammenarbeit mit dem Theologieprofessor der Universität Göttingen, Carl Stange, sowie einigen seiner Mitarbeiter aufgebaut wurde. Diese flämischen Gefangenen konnten an Sprachkursen und Seminaren zur Geographie und Geschichte teilnehmen sowie Vorlesungen zur Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtskunde und zu Natur- und Handelswissenschaften besuchen (Mirwald 1989, S. 91; Hasselhorn 1999, S. 64). Für diesen Unterricht wurden Unterrichtssäle eingerichtet und außerdem entstand im Lager eine Bibliothek mit einem beachtlichen Bestand von rund 10.000 Bänden sowie Leseräumen (Meinhardt 1975, S. 9). Ab Herbst 1917 war diese Schule staatlich anerkannt und im Januar 1918 wurden die ersten Examina abgelegt (Mirwald 1989, S. 92; Hasselhorn 1999, S. 64).

Innenansicht mit GefangenenQuelle: Städtisches Museum Göttingen

Innenansicht mit Gefangenen
Quelle: Städtisches Museum Göttingen

Aber auch die weniger gebildeten Flamen konnten von einer angenehmen Behandlung profitieren: Sie lebten in neuen Baracken aus bestem Material. In ihrem Alltag konnten sie behagliche Ess- und Aufenthaltsräume sowie eine Kirchenbaracke nutzen. Für flämische Künstler wurden Ateliers und für flämische Schriftsteller Arbeitszimmer eingerichtet. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen geringen Arbeitslohn, seit 1917 in Form von neu eingeführtem Lagergeld. Damit konnten die Gefangenen im kleinen Warenhaus oder in der Buchhandlung des Lagers, in der auch Bücher aus Belgien verkauft wurden, einkaufen. Außerdem wurde den Flamen im Jahr 1918 zweimal erlaubt, große Feste zu feiern. Diese waren mit so starkem Lärm verbunden, dass es zu Beschwerden seitens der Göttinger Bevölkerung kam. Aus kultureller Hinsicht gab es im Lager unter anderem eine Kunstaustellung mit Werken flämischer Gefangener (Meinhardt 1975, S. 8f.).

Von deutscher Seite aus bemühte man sich, dass die Bevorzugung der Flamen unter den Gefangenen nicht zu stark auffiel. Fast jede Nationalitätengruppe konnte ein Orchester und eine Theatergruppe gründen, sodass es im Lager regelmäßig Vorführungen gab (Mirwald 1989, S. 93). Dass das Kriegsgefangenenlager in Göttingen für die Finanzierung der Privilegien für die Flamen einen monatlichen Beitrag von 200 Mark erhielt, sollte kein Kriegsgefangener erfahren, damit niemand misstrauisch würde (Mirwald 1989, S. 91). Außerdem wurden die flämischen Gefangenen nicht vom Arbeitsdienst ausgenommen; im Juli 1918 waren von den rund 2.400 Flamen des Lagers im Ebertal 1.952 bei verschiedenen Betrieben im Einsatz (Mirwald 1989, S. 96).

Misserfolg der Propaganda

Durch einen Blick in den Briefwechsel der flämischen Gefangenen mit ihren Angehörigen aus der Heimat konnten die deutschen Militärs den Eindruck gewinnen, dass die Propaganda in Flandern keine pro-deutsche Stimmung verbreitete. Es entstand sogar vielmehr der Eindruck, dass die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen geringer wurden (Mirwald 1989, S. 91).

Als die flämischen Gefangenen im Zuge der Bestimmungen des 2. Berner Abkommens vom 26. April 1918 die Möglichkeit hatten, sich nach Frankreich austauschen zu lassen, verließ ein Großteil der flämischen Kriegsgefangenen Göttingen und das Deutsche Reich (Hasselhorn 1999, S. 64). Nach dem Ende des Krieges kehrte der größte Teil der noch verbliebenen Flamen in ihre Heimat zurück. Nur einige wenige blieben in Göttingen, entweder weil bei ihnen die Propaganda gewirkt hatte oder aber weil sie in Belgien vor ein Kriegsgericht gestellt worden wären (Meinhardt 1975, S. 9; Mirwald 1989, S. 99f.).

Die Nutzung als Notsiedlung

Nach dem Ende des Krieges verließ der Großteil der Kriegsgefangenen zügig das Gefangenenlager. Zeitgleich kehrten aber auch deutsche Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die gemeinsam mit ihren Familien keine Unterkunft mehr hatten. Deswegen wurde entschieden, das ehemalige Kriegsgefangenenlager als Notsiedlung zu benutzen, in der 349 Familien leben sollten (Mirwald 1989, S. 99f.). Um eine günstigere Lage zum Hang zu erreichen, wurden die Baracken zerlegt und leicht versetzt wieder aufgebaut. In den folgenden Jahren wurden an den Baracken Sanierungen vorgenommen. Unter anderem wurden die Mauern und Decken wärmeisoliert und die Baracken erhielten Spültoiletten und Kohleöfen. Darüber hinaus wurden sie teilweise unterkellert und konnten an das Stromnetz angeschlossen werden (Paine 1983, S. 184f.). Es ist wohl ungewöhnlich, dass ein ehemaliges Gefangenenlager als Notsiedlung verwendet wurde und aufgrund der Sanierungen sogar als einfache Siedlung bezeichnet werden kann. Es kann daran liegen, dass die Wohnungslage so schlecht war, dass keine andere Wahl blieb als die Baracken zu nutzen. Man kann aber auch vermuten, dass die Baracken, speziell diejenigen, die von den Flamen bewohnt waren, eine so gute Qualität aufwiesen, dass sich die Verantwortlichen gegen einen Abriss entschieden.

Im Laufe der Jahre erhielt die Siedlung „einen eher ländlichen Charakter“. Neben den kleinen Gärten, die zu jeder Wohnung gehörten, gab es am Rand des Ebertals weitere Grünflächen, die von den Bewohner beantragt werden konnten, sowie Stallungen zur Haltung von Tieren. Trotz der ständigen Verbesserungen und Neuerungen in der Siedlung hatte der Großteil der Göttinger Bevölkerung eine eher negative Haltung gegenüber der Siedlung im Ebertal. Diese Meinung wurde durch die Tatsache, dass es sich um „das alte Gefangenenlager“ handelte, durch falsche Annahmen über die Ausstattung der einzelnen Baracken sowie durch den „ländlichen Charakter“ der Siedlung hervorgerufen (Paine 1983, S. 185).

Vom Wohnungsmangel zum Wohnungsbau – der Abriss der Baracken

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man wieder eine Ausnahmesituation. In Göttingen war „die Einwohnerzahl […] im Jahr 1950 als Folge des Flüchtlingszustroms um rund 57% gegenüber dem Vorkriegsstand angestiegen“. Dies hatte einen großen Mangel an Wohnungen zur Folge. Erst mit dem Beginn der 1960er Jahre und dem „sozialen Wohnungsbau“ wurden Wohnungsbauprojekte realisiert, welche die Lage allmählich entspannten. Ab dem Jahr 1961 war von diesen Veränderungen auch die Siedlung im Ebertal betroffen (Trittel 1999, S. 308-310). Als Grund für die Maßnahme wurde unter anderem das Alter der Baracken angegeben, die nun schon seit über 40 Jahren bestanden und somit das einzige noch bestehende Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg darstellten. Dennoch waren die Meinungen in der Göttinger Bevölkerung zur Sanierung im Ebertal sehr verschieden. So wurde zum Beispiel kritisiert, dass zur Zeit einer so angespannten Wohnungslage bewohnbare Unterkünfte ersetzt werden sollten (Paine 1983, S. 191f.).

Mit diesem Sanierungsprogramm verschwand die Siedlung im Ebertal. Die Baracken aus dem Ersten Weltkrieg mussten neuen Wohnblocks weichen, die das Stadtbild im Ebertal heutzutage immer noch prägen (Paine 1983, S. 195).

Literaturverzeichnis

Hasselhorn, Fritz (1999): Göttingen 1917/18-1933, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 63-126.

Meinhardt, Günther (1975): Das Gefangenen-Lager im Ebertal, in: Göttinger Monatsblätter 18 (August 1975), S. 8-9.

Mirwald, Christa (1989): Ausländer in Göttingen – von 1914 bis heute, in: Schmeling, Hans-Georg (Hrsg.): 100 Jahre Göttingen und sein Museum. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Alten Rathaus 1. Oktober 1989 – 7. Januar 1990, Göttingen, S. 89-116.

Oltmer, Jochen (2006): Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914-1918, in: Ders. (Hrsg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs (Krieg in der Geschichte 24), Paderborn [u.a.], S. 67-96.

Paine, Norton (1983): Die Siedlung Ebertal/Himmelsbreite in Göttingen. Stimmen zum Problem der Sanierung eines Göttinger Stadtviertels, in: Göttinger Jahrbuch 1983, S. 183-216.

Stange, Carl (1935): Das Kriegsgefangenenlager in Göttingen, in: Saathoff, Albrecht (Hrsg.): Göttinger Kriegsgedenkbuch 1914-1918, Göttingen, S. 130-135.

Trittel, Günter J. (1999): Göttingens Entwicklung seit 1948, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 291-356.

Stand: 03.02.2013