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Die Lokhalle

von Sebastian Wolfram Hennies

Die Maschinenwerkstatt bzw. Ausbesserungwerk der Eisenbahn nahm seit der Gründung 1855 im Leben vieler Göttinger eine wichtige Rolle ein. Das noch heute vorhandene und 1917-1920 erbaute Hauptgebäude, die Lokrichthalle, ist seit der öffentlichen Debatte um die Nachnutzung als „Lokhalle“ bekannt. Neben der Universität war die Eisenbahn bis 1976 einer der stabilsten und  wichtigsten Arbeitgeber.

Vorbemerkungen

Es beschäftigte überwiegend männliche Arbeiter. Nur zu Kriegszeiten, vor allem im zweiten Weltkrieg, kamen Frauen in die Lokhalle und halfen den Mangel an Arbeitern auszugleichen. Ihre Rolle soll auf keinen Fall gering geschätzt werden, jedoch ist sie für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert nicht von größerer Bedeutung und damit auch nicht für diesen Text, da dieser die Zeit von 1855 – ungefähr Anfang des 20. Jahrhunderts behandelt. Ich verzichte daher auf ein durchgehendes gendering der Begriffe.

Die Quellenlage zur Lokhalle ist insgesamt dünn. Zwar gibt es einige moderne Werke zur Lokhalle, jedoch gehen diese nur bedingt auf die Zeit vor 1900 ein und beleuchten zudem die Arbeiterkultur wenig bzw. gar nicht. Günther Siedbürger macht auf die Quellenlage aufmerksam und verweist unter anderem auf eine Notiz, die er während der Archivrecherche fand: „Akte NStA (Niedersächsisches Staatshauptarchiv) Hann 133 acc. 30/82, Nr. 6 (…) „Göttingen. Werkstätten. Vernichtet im Jahre 1972“. Während der Arbeit an seinem Buch nahm laut eigenen Aussagen die Archivarbeit den größten Teil ein. So konnte er viele Fakten sammeln und in seinem Werk darstellen. Auf seinem Buch und den darin präsentierten Ergebnisse basiert dieser Text.

Reichsbahnausbesserungswerke

Mit der Entstehung der Eisenbahn in Deutschland im Jahre 1835 wurden zur Ausbesserung und Instandhaltung der Lokomotiven und Wagen kleine bahneigene Werkstätten als Reparaturstellen eingerichtet. Mit der Erweiterung des Eisenbahnnetzes und der damit verbundenen notwendigen Vergrößerung des Fahrzeugparkes sind die Eisenbahnwerkstätten für eine planmäßige Erhaltungswirtschaft ausgebaut worden. Sie nahmen in der Folgezeit immer mehr den Charakter von Reparaturwerkstätten mit einer bestimmten Organisation und Arbeitsteilung an. Reichsbahnausbesserungswerke waren ab den 1920er Jahren technische Großbetriebe, deren Aufgabe in der wirtschaftlichen Unterhaltung der Betriebsmittel der Deutschen Reichsbahn bestand. Die Geschichte aller  Werke zeigt, dass die Städte und Territorien nichts unversucht ließen, ein solches Werk in ihren Mauern zu besitzen. Die gesicherte Stellung der Beschäftigten bei der Deutschen Reichsbahn wirkte sich sowohl kulturell als auch wirtschaftlich auf die Stadt, die Geschäftswelt und die Schulen aus.

Lokhalle heute von Nordost; Quelle: Wikimedia Commons, GNU Free Documentation License

Lokhalle heute von Nordost; Quelle: Wikimedia Commons, GNU Free Documentation License

Die Lokhalle in Göttingen

Wahrscheinlich 1855 wurde die Göttinger Lokhalle eröffnet. Einen genauen Beleg gibt es dafür nicht. Sie gehörte damals und bis 1914 zum größten (Staats)Unternehmen der Welt: Der preußisch-hessischen Staatseisenbahn. Bei ihrer Gründung hieß sie „Maschinenwerkstatt“ und war verhältnismäßig klein. Sie bestand bei ihrer Gründung 1855 aus Lokomotivhalle, Schmiede, Tischlerei, Wagenwerkstatt, Radsatzwerkstatt, zwei Schiebebühnen, Verwaltungsgebäude, Kesselhaus mit Dampfmaschine, mit welcher über Transmissionsriemen die Maschinen in der mechanischen Fertigung angetrieben wurden. Später wurde sich in „Ausbesserungswerkstatt“ umbenannt. Es kamen bis 1892 hinzu: Stofflager, Werkzeugmachere, Schlosserei, eine zweite Lokhalle, Tenderwerkstatt, Gelbgießerei, Kupferschmiede, Klempnerei und eine neue Halle für die Wagenausbesserung. Erst mit dem Ende des 20. Jahrhundert kam der Begriff „Lokhalle“ in Berührung mit dem Gebäude, welches in der heutigen Bahnhofsallee in Göttingen anzufinden ist. Die Halle „Lokhalle“, die heute noch zu sehen ist, ist ein großer Teil des Gesamten Komplexes und wurde 1917 erbaut. Entscheidend für diese Position außerhalb der Stadt waren im Wesentlichen drei Faktoren. Einerseits stand in unmittelbarer Nähe der Bahnhof, der 1855 eröffnet wurde und wohl auch den ausschlaggebendsten Faktor darstellt. Nicht unerheblich war auch die Größe des Grundstücks, das man nur außerhalb der Innenstadt finden konnte. Andererseits gab es auch die preußische Bestimmung, dass sich Ausbesserungswerke abgelegen von Wohngebieten und viel befahrenen Straßen befinden mussten. Der enorme Geräuschpegel, der in den Hallen vorherrschte, wäre für die Umgebung zur Dauerbelastung geworden.

Mehr Loks, mehr Arbeiter. Die Entwicklung.

In der Lokhalle wurden vor allem Reparatur- und Wartungsarbeiten verrichtet. Lediglich die Teile für die Reparatur wurden in der Kesselschmiede hergestellt. Schon im 19. Jahrhundert gab es verbindliche Vorschriften, die bei Lokomotiven alle 6 Jahre eine Hauptuntersuchung und alle 3 Jahre eine Zwischenuntersuchung vorsahen. Bei Unfällen oder Ähnlichem wurden die Loks sofort repariert. Aber nicht nur Loks wurden repariert und gewartet, auch Weichen und Gleiswagen wurden unter die Lupe genommen. Göttingen war auf Grund seiner geografisch-politischen Lage ein wichtiger Anlaufpunkt für die Eisenbahn. König Ernst August wollte keine Bahntrasse durch Hessen und so führte er die Hannoversche Südbahn von Göttingen die steile Strecke über Dransfeld nach Hannoversch Münden. Dazu mussten stärkere Loks vor die Wagons gespannt werden. Die ausgespannten Loks wurden so in Göttingen gleich gewartet. Die Göttinger Lokhallen-Arbeiter hatten damit reichlich zu tun. Von 1847 bis 1914 stieg die Zahl der Lokomotiven der Eisenbahndirektion Hannover von 42 auf ca. 1500 Loks an. Gleichzeitig wuchsen auch die Belegschaft und die Anforderungen. Wahrscheinlich sind diese Entwicklungen dem erhöhten Transportaufkommen im Zuge der steigenden Zahl an Überseeexporten, die über Bremerhaven abgewickelt wurden, geschuldet. Zahlen zum Beschäftigtenstand finden sich bis 1868. Vereinzelt auch noch in den 1890ziger Jahren. Zu beobachten ist jedoch zwischen 1860 und 1870, dass sich die Belegschaftszahl fast verdreifachte. 1855 war man noch mit ungefähr 60 Mitarbeitern gestartet. 1870 knackte man schon die 300-Mitarbeiter-Marke und kam 1900 bei 500 an.

Arbeitssituation. Kontrolle, Arbeitszeit und Lohn.

Gearbeitet wurde im Gedingverfahren, welches eine Form der Akkordarbeit war. Dabei wurde der Arbeitsprozess in Abschnitte unterteilt und auf Kolonnen aufgeteilt. Auch die maximal benötigte Zeit für die Aufgabe und die Anzahl der zu schaffenden Aufgaben wurde von einem unteren Beamten eingeteilt. Für die Wirtschafter bedeutete die Gedingarbeit eine Ersparnis an den Löhnen und höhere Produktivität. Für die Arbeiter, die in einer 20 Personen umfassenden Kolonne arbeiteten, brachte dies enormen Zeitdruck, geringere Grundlöhne und schlechtere Arbeitsbedingungen. Dabei war ihr Arbeitsalltag geprägt von Lärm und Schmutz. Arbeitssicherheit gab es zu damaliger Zeit nicht. Viele Arbeiten, wie das Vernieten des Heizkessels, gingen mit einer immensen akustischen Belastung einher. Die unmittelbar beteiligten Arbeiter büßten so in kürzester Zeit den Großteil ihrer Hörfähigkeit ein. Auch die geringe Beleuchtung der Halle stellte ein großes Risiko dar. Zwar waren die Hallen überdacht, dies bot Witterungsschutz, ließ aber kaum Licht ins Innere.  So gab es viele offene Gasglühlampen. Kleinere Öllampen spendeten etwas Licht bei Arbeiten unter den Loks. Nicht zuletzt durch die Gedingarbeit und weitere Umstände (Lärm und Licht) waren die Arbeitsbedingungen schlecht. Auch die Ausstattung war anscheinend nicht immer dem damaligen Standard entsprechend. So beschrieb ein Arbeiter 1904 den Prozess des Hochwindens einer Lok:  „Das Hochwinden der Lok erfolgte durch 4 – 6 Windeblöcke mit Handkurbeln, von 16-24 Personen, in 1 ½ Stunden (…) Für Reparatur von heißgelaufenen Achslagern waren in jeder Abteilung 2 Gleise mit Senkkanal verfügbar. Das Heben und Senken der Achsen erfolgte in der neuen Bude hydraulisch, in der alten Bude mit Handkurbelwerk, die 1910 durch hydraulische ersetzt wurde.“ (Siedbürger 1995, S. 23) Tatsächlich dauerte wohl das Hochwinden wesentlich länger als hier beschrieben: „Ein Arbeiter erzählte, ihm habe sich als Kind der Satz seines von der Arbeit im Werk heimkommenden Vaters eingeprägt: ‚Heute haben wir wieder eine Lok hochgezogen!’“. (Siedbürger 1995, S. 23)

Gearbeitet wurde von Montag bis Sonnabend. Dabei musste die Belegschaft der Göttinger Lokhalle 1904 10 Stunden/Tag arbeiten. Diese Stunden waren an die Jahreszeiten angepasst. Im Sommer: 6:30 – 18:00 Uhr und im Winter: 7:00 – 18:30 Uhr. Pausen wurden stets von 12 – 13 Uhr genommen. Nicht inbegriffen sind Überstunden, die sich wohl im Bereich zwischen einer und zwei Stunden aufhielten und nötig waren, um wenigstens etwas zum geringen Grundlohn hinzu zu verdienen. Kontrolliert wurde dies von einem Pförtner. Die Entlohnung für diese vielen Stunden war im Vergleich zur Privatwirtschaft unterdurchschnittlich. „Lohnenswert“ machte diese Arbeit nur die Verteilung des Lohns auf die Länge des Angestelltenverhältnisses bzw. das Alter der Arbeiter. Steigerte sich der Lohn in der Privatwirtschaft vom Anstellungsbeginn bis etwa zum 40. Lebensjahr und sank bis zur Rente wieder rapide ab, so stieg die Bezahlung der Arbeiter in der Lokhalle von ihrem 12. – 20. Beschäftigungsjahr stetig an, und behielt dann das Niveau des 20. Beschäftigungsjahres bis zur Rente. Zudem durften die Lokhallenbeschäftigten nur bei schweren Verstößen gekündigt werden, sodass man davon ausgehen kann, dass die Anstellung verhältnismäßig sicher war und auch sicherer entlohnt wurde. Arbeiter in der Privatwirtschaft hatten meist ein wesentlich lockeres Arbeitsverhältnis und wurden durch die Lohnpolitik überwiegend mit fortgeschrittenem Alter der Armut überlassen. Trotzdem war ein Lokhallen-Arbeiter-Leben mit einer vierköpfigen Familie  ohne einen zweiten Verdienst nicht möglich. Zu schlecht war trotz der stabilen Arbeitssituation das Auskommen der Arbeiter und damit auch ihrer Familien. So darf man nicht vergessen, dass im Kaiserreich durchschnittlich 60 % des Lohnes auf Nahrung entfiel und 20 – 30 % auf die Miete. Es war wenig finanzieller Spielraum da, um Ersparnisse anzulegen oder seine Wohn- und Lebenssituation entscheidend zum Besseren zu ändern. Die Arbeiterbewegung allerdings auch in Göttingen Gelegenheit zur Weiterbildung und zur klassenbewußten Geselligkeit (Volksheim)

Fazit. Unsicher, hart und kontrolliert.

Zusammenfassend kann man sagen: Das Leben eines Lokhallen-Arbeiters war geprägt von geringer Entlohnung bei gleichzeitigem hohen Arbeitspensum. Diese Arbeit war meist sehr hart und nicht sicher. Dabei arbeitete er in einem immer größer werdenden Industriekomplex, der immer mehr Arbeiter anstellte. Als positiv muss dabei die überdurchschnittlich sichere Anstellung dieser Arbeiter erwähnt werden. Die Lokhalle produzierte nicht wie Privatwirtschaft verarmte Menschen, trug dabei aber auch nicht sonderlich zur Verbesserung der Situation ihrer Arbeiter bei. Sozial nachverträglich war jedoch die Rente, die verhinderte, dass sich die schwierige ökonomische Situationen der ehemaligen Arbeiter weiter verschlechterten. Gleichzeitig setzte die Lokhalle ihre Arbeiter aber auch unter massiven Druck. Sei es die Gedingarbeit, die faktische Verpflichtung zu Überstunden oder auch der Einsatz von Kontrollpersonal, wie die Pförtner und unteren Beamten, die die Gedingarbeit kontrollierten und festlegten.

Als das Werk 1976 endgültig geschlossen wurde, konnte zunächst keine Nachnutzung gefunden werden und der Komplex blieb Industrieruine. In den 1990er Jahren wurde die Haupthalle umgebaut. Er entstand ein Kongresszentrum mit Veranstaltungshalle, Restaurants und Multiplexkino (Burmeister/Heinzel 2001).

zuletzt bearbeitet am 31. Januar 2013.

Literatur:

Burmeister, Karl/ Mathias Heinzel (2001), Die Göttinger Lokhalle im Otto-Hahn-Zentrum. Von der Industrie-Ruine zur Mehrzweckhalle. 120 Jahre Göttinger Eisenbanhgeschichte, Göttingen.

Siedbürger, Günther (1995): „Die Lokhalle und ihre Eisenbahner. Werksgeschichte und Arbeiterkultur in Göttingen 1855 – 1915, Göttingen.

 

Die Siedlung im Ebertal

Gefangenenlager des Ersten Weltkrieges und spätere Notsiedlung

von Malina Polauke

Als Stadt in der Mitte des Deutschen Reiches war Göttingen während des Ersten Weltkrieges nicht direkt von Kriegshandlungen betroffen. Durch die Anweisung, Kriegsgefangene in Göttingen zu versammeln, und durch die damit verbundene Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers im Ebertal war der Krieg nach den ersten Monaten auch in Göttingen angekommen. In der Funktion als Kriegsgefangenenlager hatte die Siedlung im Ebertal bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bestand. In der Nachkriegszeit diente das Lager als Notsiedlung, unter anderem für aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte deutsche Soldaten und deren Familien. Bis zu ihrer „Beseitigung“ zu Beginn der 1960er Jahre wohnten in der Siedlung im Ebertal Göttinger Familien aus der Arbeiterschicht.

Das Gebiet des ehemaligen Lagers wird heute von den Straßen Wörthstraße, Breslauer Straße, Görlitzer Straße, Merkelstraße, Himmelsbreite und Beethovenstraße eingeschlossen.

Die Anfänge

Bereits im August 1914 trafen die ersten Kriegsgefangenen in Göttingen ein, die zunächst in Lazaretten an verschiedenen Orten in der Stadt untergebracht wurden. Schon wenig später folgte die Anweisung durch das Generalkommando des X. Armeekorps, dass in Göttingen insgesamt 10.000 Kriegsgefangene aufgenommen werden sollten und dass zu diesem Zweck ein Kriegsgefangenenlager errichtet werden müsste. Im Ebertal, auf einem circa 13 Hektar großen Gebiet hinter den städtischen Kasernen (siehe auch: Die Garnison zu Göttingen), einem früheren Weizenfeld, wurde durch eine Firma und mit der Arbeitskraft von 180 Kriegsgefangenen das Lager errichtet. Das Lager mit seinen insgesamt über 200 Baracken war an die Kanalisation und an das Gleichstromnetz der Stadt angeschlossen (Mirwald 1989, S. 89f.; Stange 1935, S. 130).

LageplanQuelle: Stadtarchiv Göttingen

Lageplan
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

Allgemeines

Das Lager war in drei große Bereiche aufgeteilt. Zum einen gab es das Alte Lager, welches mit insgesamt 150 Bauten den größten Teil des Gefangenenlagers darstellte. Darunter waren 84 Baracken, in denen die Kriegsgefangenen lebten. Diese waren jeweils in vier Räume eingeteilt, zwei für die Mannschaften und zwei für die Unteroffiziere. Zum anderen gab es ein Lazarett und Absonderungslager mit 22 Bauten, welches von dem Alten Lager abgesperrt war und wo die kranken Gefangenen untergebracht waren. Das Neue Lager wurde erst später erbaut und diente mit seinen 45 Bauten besonders der Unterbringung der Wachmannschaften (Mirwald 1989, S. 90; Mirwald 1989, „Lageplan zum Kriegsgefangenenlager“).

In dem Lager wurden viele verschiedene Nationalitäten untergebracht, so kamen die Kriegsgefangenen aus Frankreich, England, Russland, Italien, Belgien, Kanada, den USA und Afghanistan (Mirwald 1989, S. 90; Meinhardt 1975, S. 8).

Die Kriegsgefangenen hielten sich nicht den gesamten Tag im Gefangenenlager auf, sondern wurden für Arbeitsdienste in der Industrie, in der Landwirtschaft und bei gemeinnützigen Aufgaben eingesetzt. Da sich der größte Teil der arbeitenden deutschen Bevölkerung als Soldaten im Krieg befand und somit Engpässe in den Fabriken und Betrieben bestanden, waren die Kriegsgefangen gern gesehen und wurden für die Arbeitgeber schnell zu unverzichtbaren Arbeitskräften. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen niedrigen Lohn. Einige von ihnen kehrten für die Nacht nicht in das Gefangenenlager zurück, sondern erhielten in der Nähe ihrer Arbeitsstelle eine Unterkunft und wurden dort auch versorgt (Hasselhorn 1999, S. 64; Mirwald 1989, S. 96-98).

Der Arbeitskräftemangel machte sich überall im Deutschen Reich bemerkbar, beispielsweise waren am 1. August 1916 von den 1,6 Millionen Kriegsgefangenen mit 1,45 Millionen rund 90 Prozent beschäftigt. Diese wurden vor allem in der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in der Industrie eingesetzt. In diesem Punkt wurde mit den Kriegsgefangenen des Lagers im Ebertal also nicht anders umgegangen als mit den anderen Kriegsgefangenen des Deutschen Reiches (Oltmer 2006, S. 70; Mirwald 1989, S. 97).

Die flämischen Kriegsgefangenen

Erst durch die außenpolitischen Entwicklungen im Herbst 1915 änderte sich die Situation auch für das Kriegsgefangenenlager in Göttingen: Nach dem Feldzug in Serbien hofften die Deutschen auf einen baldigen Sieg. Damit verbunden entstand das Ziel, aufgrund der Spannungen zwischen Flandern und Wallonien, eine Teilung Belgiens zu erreichen und die Region Flandern als Herzogtum in das Deutsche Reich einzugliedern. Aus diesem Grund wurde bestimmt, dass mithilfe gezielter Propaganda die flämischen Kriegsgefangenen dazu gebracht werden sollten, der Teilung Belgiens und dem Anschluss an das Deutsche Reich freiwillig zuzustimmen (Meinhardt 1975, S. 8).

Deswegen wurde der größte Teil der flämischen Kriegsgefangenen an einem Ort versammelt – im Göttinger Ebertal (Mirwald 1989, S. 90). Unter diesen Gefangenen befanden sich etwa 135 gebildete Flamen, welche die vorher festgelegte „Aufklärungsarbeit“ leisten sollten. Für diese Flamen wurde im Lager eine Schule errichtet, die in Zusammenarbeit mit dem Theologieprofessor der Universität Göttingen, Carl Stange, sowie einigen seiner Mitarbeiter aufgebaut wurde. Diese flämischen Gefangenen konnten an Sprachkursen und Seminaren zur Geographie und Geschichte teilnehmen sowie Vorlesungen zur Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtskunde und zu Natur- und Handelswissenschaften besuchen (Mirwald 1989, S. 91; Hasselhorn 1999, S. 64). Für diesen Unterricht wurden Unterrichtssäle eingerichtet und außerdem entstand im Lager eine Bibliothek mit einem beachtlichen Bestand von rund 10.000 Bänden sowie Leseräumen (Meinhardt 1975, S. 9). Ab Herbst 1917 war diese Schule staatlich anerkannt und im Januar 1918 wurden die ersten Examina abgelegt (Mirwald 1989, S. 92; Hasselhorn 1999, S. 64).

Innenansicht mit GefangenenQuelle: Städtisches Museum Göttingen

Innenansicht mit Gefangenen
Quelle: Städtisches Museum Göttingen

Aber auch die weniger gebildeten Flamen konnten von einer angenehmen Behandlung profitieren: Sie lebten in neuen Baracken aus bestem Material. In ihrem Alltag konnten sie behagliche Ess- und Aufenthaltsräume sowie eine Kirchenbaracke nutzen. Für flämische Künstler wurden Ateliers und für flämische Schriftsteller Arbeitszimmer eingerichtet. Für ihre Arbeitsdienste erhielten die Gefangenen einen geringen Arbeitslohn, seit 1917 in Form von neu eingeführtem Lagergeld. Damit konnten die Gefangenen im kleinen Warenhaus oder in der Buchhandlung des Lagers, in der auch Bücher aus Belgien verkauft wurden, einkaufen. Außerdem wurde den Flamen im Jahr 1918 zweimal erlaubt, große Feste zu feiern. Diese waren mit so starkem Lärm verbunden, dass es zu Beschwerden seitens der Göttinger Bevölkerung kam. Aus kultureller Hinsicht gab es im Lager unter anderem eine Kunstaustellung mit Werken flämischer Gefangener (Meinhardt 1975, S. 8f.).

Von deutscher Seite aus bemühte man sich, dass die Bevorzugung der Flamen unter den Gefangenen nicht zu stark auffiel. Fast jede Nationalitätengruppe konnte ein Orchester und eine Theatergruppe gründen, sodass es im Lager regelmäßig Vorführungen gab (Mirwald 1989, S. 93). Dass das Kriegsgefangenenlager in Göttingen für die Finanzierung der Privilegien für die Flamen einen monatlichen Beitrag von 200 Mark erhielt, sollte kein Kriegsgefangener erfahren, damit niemand misstrauisch würde (Mirwald 1989, S. 91). Außerdem wurden die flämischen Gefangenen nicht vom Arbeitsdienst ausgenommen; im Juli 1918 waren von den rund 2.400 Flamen des Lagers im Ebertal 1.952 bei verschiedenen Betrieben im Einsatz (Mirwald 1989, S. 96).

Misserfolg der Propaganda

Durch einen Blick in den Briefwechsel der flämischen Gefangenen mit ihren Angehörigen aus der Heimat konnten die deutschen Militärs den Eindruck gewinnen, dass die Propaganda in Flandern keine pro-deutsche Stimmung verbreitete. Es entstand sogar vielmehr der Eindruck, dass die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen geringer wurden (Mirwald 1989, S. 91).

Als die flämischen Gefangenen im Zuge der Bestimmungen des 2. Berner Abkommens vom 26. April 1918 die Möglichkeit hatten, sich nach Frankreich austauschen zu lassen, verließ ein Großteil der flämischen Kriegsgefangenen Göttingen und das Deutsche Reich (Hasselhorn 1999, S. 64). Nach dem Ende des Krieges kehrte der größte Teil der noch verbliebenen Flamen in ihre Heimat zurück. Nur einige wenige blieben in Göttingen, entweder weil bei ihnen die Propaganda gewirkt hatte oder aber weil sie in Belgien vor ein Kriegsgericht gestellt worden wären (Meinhardt 1975, S. 9; Mirwald 1989, S. 99f.).

Die Nutzung als Notsiedlung

Nach dem Ende des Krieges verließ der Großteil der Kriegsgefangenen zügig das Gefangenenlager. Zeitgleich kehrten aber auch deutsche Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die gemeinsam mit ihren Familien keine Unterkunft mehr hatten. Deswegen wurde entschieden, das ehemalige Kriegsgefangenenlager als Notsiedlung zu benutzen, in der 349 Familien leben sollten (Mirwald 1989, S. 99f.). Um eine günstigere Lage zum Hang zu erreichen, wurden die Baracken zerlegt und leicht versetzt wieder aufgebaut. In den folgenden Jahren wurden an den Baracken Sanierungen vorgenommen. Unter anderem wurden die Mauern und Decken wärmeisoliert und die Baracken erhielten Spültoiletten und Kohleöfen. Darüber hinaus wurden sie teilweise unterkellert und konnten an das Stromnetz angeschlossen werden (Paine 1983, S. 184f.). Es ist wohl ungewöhnlich, dass ein ehemaliges Gefangenenlager als Notsiedlung verwendet wurde und aufgrund der Sanierungen sogar als einfache Siedlung bezeichnet werden kann. Es kann daran liegen, dass die Wohnungslage so schlecht war, dass keine andere Wahl blieb als die Baracken zu nutzen. Man kann aber auch vermuten, dass die Baracken, speziell diejenigen, die von den Flamen bewohnt waren, eine so gute Qualität aufwiesen, dass sich die Verantwortlichen gegen einen Abriss entschieden.

Im Laufe der Jahre erhielt die Siedlung „einen eher ländlichen Charakter“. Neben den kleinen Gärten, die zu jeder Wohnung gehörten, gab es am Rand des Ebertals weitere Grünflächen, die von den Bewohner beantragt werden konnten, sowie Stallungen zur Haltung von Tieren. Trotz der ständigen Verbesserungen und Neuerungen in der Siedlung hatte der Großteil der Göttinger Bevölkerung eine eher negative Haltung gegenüber der Siedlung im Ebertal. Diese Meinung wurde durch die Tatsache, dass es sich um „das alte Gefangenenlager“ handelte, durch falsche Annahmen über die Ausstattung der einzelnen Baracken sowie durch den „ländlichen Charakter“ der Siedlung hervorgerufen (Paine 1983, S. 185).

Vom Wohnungsmangel zum Wohnungsbau – der Abriss der Baracken

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man wieder eine Ausnahmesituation. In Göttingen war „die Einwohnerzahl […] im Jahr 1950 als Folge des Flüchtlingszustroms um rund 57% gegenüber dem Vorkriegsstand angestiegen“. Dies hatte einen großen Mangel an Wohnungen zur Folge. Erst mit dem Beginn der 1960er Jahre und dem „sozialen Wohnungsbau“ wurden Wohnungsbauprojekte realisiert, welche die Lage allmählich entspannten. Ab dem Jahr 1961 war von diesen Veränderungen auch die Siedlung im Ebertal betroffen (Trittel 1999, S. 308-310). Als Grund für die Maßnahme wurde unter anderem das Alter der Baracken angegeben, die nun schon seit über 40 Jahren bestanden und somit das einzige noch bestehende Kriegsgefangenenlager aus dem Ersten Weltkrieg darstellten. Dennoch waren die Meinungen in der Göttinger Bevölkerung zur Sanierung im Ebertal sehr verschieden. So wurde zum Beispiel kritisiert, dass zur Zeit einer so angespannten Wohnungslage bewohnbare Unterkünfte ersetzt werden sollten (Paine 1983, S. 191f.).

Mit diesem Sanierungsprogramm verschwand die Siedlung im Ebertal. Die Baracken aus dem Ersten Weltkrieg mussten neuen Wohnblocks weichen, die das Stadtbild im Ebertal heutzutage immer noch prägen (Paine 1983, S. 195).

Literaturverzeichnis

Hasselhorn, Fritz (1999): Göttingen 1917/18-1933, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 63-126.

Meinhardt, Günther (1975): Das Gefangenen-Lager im Ebertal, in: Göttinger Monatsblätter 18 (August 1975), S. 8-9.

Mirwald, Christa (1989): Ausländer in Göttingen – von 1914 bis heute, in: Schmeling, Hans-Georg (Hrsg.): 100 Jahre Göttingen und sein Museum. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Alten Rathaus 1. Oktober 1989 – 7. Januar 1990, Göttingen, S. 89-116.

Oltmer, Jochen (2006): Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914-1918, in: Ders. (Hrsg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs (Krieg in der Geschichte 24), Paderborn [u.a.], S. 67-96.

Paine, Norton (1983): Die Siedlung Ebertal/Himmelsbreite in Göttingen. Stimmen zum Problem der Sanierung eines Göttinger Stadtviertels, in: Göttinger Jahrbuch 1983, S. 183-216.

Stange, Carl (1935): Das Kriegsgefangenenlager in Göttingen, in: Saathoff, Albrecht (Hrsg.): Göttinger Kriegsgedenkbuch 1914-1918, Göttingen, S. 130-135.

Trittel, Günter J. (1999): Göttingens Entwicklung seit 1948, in: Thadden, Rudolf von/ Trittel, Günter J. (Hrsg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866-1989, Göttingen, S. 291-356.

Stand: 03.02.2013