Das Accouchierhaus

von Leonhard Link

Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts waren Professoren der Universität Göttingen um die Entstehung und Konsolidierung einer akademischen Wissenschaft des Entbindens bemüht. In den 1790er Jahren wurde in der Universitätsstadt die erste explizit für diesen Zweck vorgesehene universitäre Entbindungsklinik im deutschen Sprachraum errichtet. Das  heutige Gebäude des Musikwissenschaftlichen Seminars in der Kurzen Geismarstraße beherbergte seit seiner Errichtung im ausgehenden 18. Jahrhundert (1785-91)  für gut hundert Jahre die Entbindungsklinik der Universität Göttingen.

Bereits vier Jahrzehnte zuvor war der Bau des am gleiche Ort befindlichen Heilig-Kreuz-Hospitals auf Initiative Albrecht von Hallers partiell umfunktioniert worden, um dem gerade nach Göttingen berufenen außerordentlichen Professor der Medizin, Johann Georg Roederer (1726-1763), Räumlichkeiten für Entbindungen zur Verfügung zu stellen (Schlumbohm 2012, S. 13-15). Die im Hospital erfolgenden Geburten sollten einerseits daserfahrungswissenschaftlich fundierte akademische Entbindungswesen etablieren und konsolidieren helfen. Andererseits sollte den Studenten der 1737 gegründeten Universität sowie einer marginalen Zahl an Hebammenschülerinnen praktische Ausbildung zuteilwerden. Sie sahen bei den Geburten zu und ausgewählte Studenten durften auch selbst Hand anlegen (Schlumbohm 2012, S. 20-21). Die Anfänge der ärztlich-akademischen Geburtshilfe in Göttingen standen also ganz im Geiste der Aufklärung. Der aus jahrhundertelanger Praxis gewonnen Erfahrung der Hebammen stand man misstrauisch gegenüber und setzte es sich zum Ziel, durch Beobachtung gewonnenes, „rationales“ und nicht zuletzt männliches Wissen zur Grundlage der Entbindungskunst zu machen (Schlumbohm 2012,S. 10-13). Die weibliche Domäne der Geburtshilfe wurde so Gegenstand eines Prozesses der Medikalisierung, der mit einer professoral-akademischen Maskulinisierung korrespondierte.

Bild Accouchierhaus

Das im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts errichtete Accouchierhaus in der Kurzen Geismarstraße. (Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Accouchierhaus_Goettingen_%28Stammbuchblatt%29.jpg)

Der Bau des Accouchierhauses

Bereits Roederer, der in seiner nach nur zwölf Jahren durch einen frühen Tod beendeten Amtszeit die Entbindung von 232 Geburten im Heilig-Kreuz-Hospital geleitet hatte, beklagte sich wiederholt über Platzmangel und den desolaten baulichen Zustand des Krankenhauses (Wehl 1931, S. 5). Doch auch unter der Leitung seines Nachfolgers Heinrich August Wrisberg blieben die baulichen Probleme weiter bestehen. Erst in der Amtszeit des jungen Professors Johann Friedrich Fischer (1759-1814), der 1782 nach Göttingen berufen wurde, sollte der Bau eines neuen „Accouchierhauses“ Abhilfe verschaffen (Kuhn u.a. 1987, S. 176). Die gleichzeitige Unterbringung von bis zu vierzehn Schwangeren sollte so möglich werden (Schlumbohm 2012, S. 286).
Fischer, der durch eine mehrere Jahre andauernde Reise Einblick in Hospitäler und Geburtskliniken in unterschiedlichen Regionen Europas erhalten hatte, war hinsichtlich der Planung für das Göttinger Gebäude vor allem durch den Kasseler Geburtshelfer Georg August Stein beeinflusst (Schlumbohm 2012, S. 26-28). Nun musste Überzeugungsarbeit hinsichtlich der Finanzierung geleistet werden. Für die Zustimmung vonseiten der königlich-hannoverschen Regierung waren vor allem bevölkerungspolitische Argumente ausschlaggebend: Von der Senkung der Kinder- und Müttersterblichkeit, die man sich von einer Institutionalisierung des ärztlichen Entbindungswesens versprach, erhoffte man sich ein für die militärische Stärke als notwendig interpretiertes Bevölkerungswachstum (Schlumbohm 1988, S. 154).

Kostengünstig war die zwischen 1785 und 1791 errichtete, luxuriös anmutende Entbindungsklinik nicht. Gigantische Flure, hohe Decken und ein ausladendes Treppenhaus sollten eine gute Belüftung gewährleisten und so der Gesundheit der Patientinnen förderlich sein. Zudem war das obere Stockwerk als Wohnung des Direktors vorgesehen (Schlumbohm 1988, S. 151). Angesichts alternativer Karriereperspektiven bewohnte Fischer die Direktorenwohnung jedoch nur ein Jahr lang.

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Unterschiedliche Anwendungen der Geburtszange nach Friedrich Benjamin Osiander. (Quelle:
Kuhn, Walther; Tröhler, Ulrich; Teichmann, Alexander; Deinhard, M. (1987), Armamentarium obstetricium Gottingense. Eine historische Sammlung zur Geburtsmedizin, Göttingen, S. 88.)

Die Entbindungsklinik unter Friedrich Benjamin Osiander

Sein Nachfolger wurde Friedrich Benjamin Osiander (1759-1822), der in seinem 30 Jahre währenden Direktorat die Zahl der Geburten in die Höhe trieb. Osiander, der schon seit geraumer Zeit als selbstständiger Arzt eine Praxis für Geburtshilfe führte, war in Fachkreisen bereits durch mehrere „entbindungswissenschaftliche“ Publikationen bekannt (Schlumbohm 2012, S. 57-68). Zunehmend berüchtigt wurde Osiander durch den exzessiven Gebrauch der Geburtszange , worauf – so Osianders Wortwahl – „so manche Hebamme und so manches einfältige Weib“ mit „Vorurteilen“ reagierte (Schlumbohm 2012, S. 69). Von den 2540 durch Osiander geleiteten Geburten in der Entbindungsklinik entschied er, dass nur knapp mehr als die Hälfte „der Natur überlassen“ werden sollten – sie fielen somit in den Zuständigkeitsbereich der Hebammen – während die verbleibenden 1016 Geburten mithilfe der Zange und somit durch Männer durchgeführt wurden. Neben einigen wenigen Hebammenschülerinnen waren meist um die 20 Studenten bei diesen Geburten anwesend, einige durften bei den Untersuchungen helfen bzw. den Gebrauch der Zange einüben. (Schlumbohm 1988, S. 156)

Als besonders schockierend empfanden schon Osianders Zeitgenossen seine instrumentelle Haltung zu den Patientinnen des Accouchierhauses. Explizit formulierte Osiander, dass die gebärenden Frauen der Klinik und der Wissenschaft zu dienen hatten. Selbst die Leichen der verstorbenen Mütter und Säuglinge (knapp 13% starben bei der Geburt oder kamen tot zur Welt) (Schlumbohm 2012, S. 435) versuchte Osiander für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen. Man sezierte die toten Körper oder präparierte verstorbene Föten, um sie als Puppen für Übungen am „Phantom“ (einem dem weiblichen Unterleib nachempfundenen Modell) zu nutzen bzw. nahm sie in die Sammlung der Klinik auf (Schlumbohm 1988, S. 159).

Die Patientinnen

Doch wer waren die Frauen, die ihre Kinder im Göttinger Accouchierhaus zur Welt brachten? Welche Motive bildeten die Grundlage für diese zur damaligen Zeit unübliche Entscheidung?

Osiander selbst berief sich auf die Offenheit des Hospitals: „jede Schwangere, Verheuratete und Unverheuratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin“ (Schlumbohm 2012, S. 279) sei als Patientin willkommen. Ausgeschlossen waren nur Frauen, die an ansteckenden Krankheiten litten (Schlumbohm 2012, S. 296). Tatsächlich waren die Schwangeren, die die Klinik aufsuchten, von breit gestreuter geographischer Herkunft und, hiermit in Zusammenhang stehend, unterschiedlichen religiösen Bekenntnisses.
Ihre soziale Herkunft jedoch war fast ausnahmslos gleich. Fast alle Frauen waren als Magd oder Dienstmädchen tätig. Zudem waren sie fast durchweg ledig, nach damaliger Vorstellung war ihre Schwangerschaft somit illegitim. Gerade einkommensschwache Frauen, die nicht auf die Hilfe eines Ehemanns rechnen konnten, entschieden sich also für die Entbindung im Accouchierhaus (Schlumbohm 2012, S. 279-286). Hier wurden ihnen kostenlose Verpflegung und Wohnraum zur Verfügung gestellt, zudem mussten sie nur leichte Arbeiten verrichten. Auch religiöse Motivationen mögen für ledige Schwangere in prekären Verhältnissen relevant gewesen sein. Im Betzimmer im Erdgeschoss des Gebäudes konnten sie die „Kirchenbuße“ tun, eine für uneheliche Schwangerschaften verlangte Handlung, die in den Gemeinden normalerweise öffentlich praktiziert wurde und neben stigmatisierenden Wirkungen auch eine Geldstrafe abverlangte, die im Kontext der Entbindungsklinik entfiel (Schlumbohm 1988, S. 152-153).

Für diese Leistungen hatten die schwangeren Frauen jedoch durchaus einen Preis zu zahlen. Weitestgehend ihrer Handlungsfähigkeit beraubt, wurden sie mit der Aufnahme ins Hospital zu Objekten einer Wissenschaft gemacht, die noch in den Kinderschuhen steckte. Schon bei der Aufnahme wurden die Frauen einer vermutlich als peinlich empfunden körperlichen Inspektion durch den männlichen Geburtshelfer unterzogen (Schlumbohm 2012, S. 399). Später folgten zweimal wöchentlich stattfindende Untersuchungen durch Studenten. Den häufigen Gebrauch der 40 cm großen Zange bei der unter Anwesenheit von Studenten stattfindenden Geburt begründete Osiander allein mit der Aussage, dies sei „zum Unterricht und zur Übung der Studenten“ notwendig (Schlumbohm 1988, S. 156-157). Nicht das Wohl der Schwangeren und des Kindes als Individuen stand im Vordergrund, sondern der kollektive Fortschritt der Wissenschaft.

Vom Accouchierhaus zur Frauenklinik

Bis zu seinem Tod im Alter von 63 Jahren reduzierte Osiander die Zahl der durch künstliche Hilfe durchgeführten Geburten jedoch zunehmend. Nachdem sein Sohn die Leitung des Hospitals vorübergehend übernommen hatte, erfolgte unter dem Direktorat Ludwig Julius von Mendes (1779-1832) eine Einbeziehung der Behandlung von nicht mit der Schwangerschaft in Zusammenhang stehenden spezifisch weiblichen Krankheiten in den Tätigkeitsbereich der Entbindungsklinik. So beschäftigte sich Mende etwa mit der Therapie des Gebärmutterhalskrebses, eine Thematik, die auch zum Gegenstand der Lehre werden sollte (Kuhn u.a. 1987, S. 180). Die gerade im Entstehen begriffene Gynäkologie hielt so Einzug in das Göttinger Hospital. Die Entwicklung vom Accouchierhaus zur Universitätsfrauenklinik kündigte sich an (Seidel 1998, S. 308-312).
Mendes Nachfolger, Eduard Caspar Jacob von Siebold (1801-1861), etablierte in den 50er Jahren eine bahnbrechende Neuerung der Medizin in der Praxis des Göttinger Accouchierhauses. Die Erfindung der Äthernarkose wurde nun für Kaiserschnitte nutzbar gemacht (Kuhn u.a. 1987, S. 181). Für die Mutter war diese Operation jedoch in den meisten Fällen immer noch tödlich (Seidel 1998, S. 362). Erst in den 1870er Jahren sollte die Einführung antiseptischer Wundbehandlungen in Geburtshilfe und Gynäkologie sowie die parallele Entwicklung neuer operativer Techniken eine realistische Überlebenschance der per Kaiserschnitt operierten Frauen ermöglichen (Kuhn u.a. 1987, S. 182-183).

Unter Leitung Max von Runges entschloss man sich am Ende des 19. Jahrhunderts, das Gebäude in der Kurzen Geismarstraße zu verlassen. Nicht zuletzt angesichts der Erweiterung des Zuständigkeitsbereiches der Klinik um die sich konsolidierende Gynäkologie war das alte Accouchierhaus zu klein geworden. Der 1896 bezogene Neubau in der Humboldtallee (inzwischen: Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin) beherbergt noch heute die von Roederer im 18. Jahrhundert begründete geburtsmedizinische Sammlung (Kuhn u.a. 1987, S. 183).

Literatur:

Schlumbohm, Jürgen (1988), Ledige Mütter als „lebendige Phantome“ – oder: Wie die Geburtshilfe aus einer Weibersache zur Wissenschaft wurde, in: Kornelia Duwe, Carola Gottschalk und Marianne Koerner (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen, S. 150–159.

Kuhn, Walther; Tröhler, Ulrich; Teichmann, Alexander; Deinhard, M. (1987), Armamentarium obstetricium Gottingense. Eine historische Sammlung zur Geburtsmedizin, Göttingen.

Schlumbohm, Jürgen (2012), Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751-1830, Göttingen.

Seidel, Hans-Christoph (1998), Eine neue „Kultur des Gebärens“. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart.

Wehl, Hans (1931), Die Entwicklung der Geburtshilfe und Gynäkologie an Hand der Geschichte der Göttinger Universitäts-Frauenklinik in den Jahren 1751 – 1861, Göttingen. Univ. Diss.

Ein Gedanke zu „Das Accouchierhaus

  1. Richard Hölzl

    Per e-mail hat mich noch ein Hinweis zu einer themennahen Publikation erreicht, den ich gerne weitergebe:
    Henrike Hampe, Zwischen Tradition und Instruktion. Hebammen im 18. und 19. Jahrhundert
    in der Universitätsstadt Göttingen (Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen 14), Göttingen 1998.
    Richard Hölzl

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