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Die Göttinger Scharwache

von Timo Pietsch

Die Scharwache im heutigen „Alten Rathaus“ (Markt 9) ist seit fast 280 Jahren eng mit der Stadt Göttingen verknüpft. Immer war es ein Ort des Zusammentreffens. Während es heute einen Ort der Geselligkeit und der lukullischen Genüsse darstellt, war die Scharwache in ihrer Geschichte eher durch soziale und gesellschaftliche Konflikte geprägt. Denn auch wenn die Redensart davon ausgeht, dass sich der Dritte freut, wenn zwei sich streiten, so freute sich bei den in Rede stehenden Konflikten letztlich niemand. Auf eben diese Konfliktträchtigkeit des städtischen Zusammenlebens soll im Folgenden ein Blick geworfen werden.

Forschungsstand

Eine umfassende Geschichte der Göttinger Scharwache, die 1906 zum Ratsweinkeller umfunktioniert wurde (Binder 1990, S. 19), ist noch nicht geschrieben. Dies ist umso bedauerlicher, als doch schon die bereits vorliegenden, verstreuten Forschungsergebnisse die Bedeutung der Scharwache für die Göttinger Geschichte eindrucksvoll in Szene setzen.

Scharwache nach 1900 (Kelterborn 1936).

Scharwache nach 1900 (Kelterborn 1936).

Die 28 Jahre (1735-1763) nach der Einrichtung der Scharwache, in der sie ihre ursprünglich zugewiesene Funktion ausgeübt hat, sind in einem schönen Überblick dargestellt (Brüdermann 1990, S. 79-84). Eine erschöpfende Darstellung der folgenden 143 Jahre (1763-1906) fehlt jedoch. Immerhin finden sich für diesen Zeitraum einige Schlaglichter, jedoch unterschiedlichster Qualität (vgl. etwa Lüdtke 1988, S. 164-170; Waldwege 1934, S. 51; Alexander 1979, S. 8 f.).

Deutlich wird aus dem bislang Greifbaren, dass die Scharwache nicht nur als Indikator für die sozialen Ambivalenzen zwischen Stadt und Universität gesehen werden muss, sondern auch exemplarisch für die Göttinger Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Verwaltungs- und Gerichtshoheitsträgern gewesen ist.

Die Scharwache – historischer Abriss

Ankündigung des „academischen Magistrats“ vom 1. September 1735

Ankündigung des „academischen Magistrats“ vom 1. September 1735

Von Seiten des „academischen Magistrats“ wurde am 1. September 1735 bekanntgegeben, „daß die wieder neu errichtete Schaar- und Nacht-Wache ihr Amt nunmehro antreten solle“, mit der Aufgabe „quietis publicae & securitatis vniuscuiusque vestrum custodes“ zu garantieren (Universita[e]ts-Neuigkeiten 1735, S. 3 f.), also „für öffentliche Ruhe und für die Sicherheit eines jeden Bürgers“ Sorge zu tragen (Übersetzung nach Schmeling 1987, S. 60).

Die bis 1734 personell wechselnde Bürgerwache erschien, in Anbetracht der antizipierten Konflikte, nicht mehr in der Lage die städtische Nachtruhe zu gewährleisten. Die Stadt orientierte sich an der Leipziger Universität, die – wie auch andere etablierte Universitäten – eine professionelle, mithin hauptamtliche, Wachtruppe eingesetzt hatte (Brüdermann 1990, S. 79). Nur eine solche schien in der Lage, den Auseinandersetzungen Herr zu werden, die mit dem Einzug einer neuen sozialen Gruppe, der Universitätsangehörigen, in die bestehende städtische Gesellschaft zu erwarten waren (vgl. Schmeling 1987, S. 59). Sie sollte der „mehrern Sicherheit und Bequemlichkeit der Stadt und Universita[e]t“ dienen (Hollmann 1787, S. 95).

Bereits die Bezeichnung „Scharwache“ spiegelt einen Teil ihres Aufgabenbereichs wieder. So diente die im Keller des Rathauses eingerichtete Lokalität  (Brüdermann 1990, S. 80) – die gleich der Institution als Scharwache bezeichnet wurde – vornehmlich als Sammel- und Anlaufpunkt, von dem aus die Scharwächter ihre Patrouillen begannen und an dem sie diese auch wieder beendeten. Dies stellt die wesentlichen Abgrenzung zur Schildwache dar, die einen örtlich festen Wachposten einnimmt, aber nicht patrouilliert (Grimm/Grimm 1893, Sp. 2227 f.).

Die Scharwache nahm mit ca. zwölf Mann im September 1735 ihre Tätigkeit auf (Brüdermann 1990, S. 79 setzt den Beginn wohl ungenau im Mai 1735 an; vgl. Schmeling 1987, S. 60). Das Personal war jedoch auf Grund seiner physischen Konstitution den vorgesehenen Aufgaben kaum gewachsen. Nicht nur rekrutierten sich die Scharwächter regelmäßig aus soldatischen „Invaliden“, die zum übermäßigen Alkoholkonsum – auch während des Dienstes – neigten. Vielmehr betrug ihr Altersdurchschnitt beispielsweise im Jahr 1736 48 Jahre, wobei der Älteste auf 71 Lebensjahre zurückblicken konnte (Brüdermann 1990, S. 79-81). Dementsprechend waren schon die regulären Verpflichtungen belastend, die sie im Rahmen ihrer Patrouillen zu erfüllen hatten – wie das Überwachen der Einhaltung der Sperrstunde, das frühzeitige Melden von Bränden sowie die allgemeine Sicherung von Ruhe und Ordnung. Konflikte mit Studenten – wie sie etwa aus der Kontrolle ihrer Stubengesellschaften resultieren konnten – waren kaum zu bewältigen (Brüdermann 1990, S. 80 f.).

Insbesondere auf Grund der im Folgenden darzustellenden sozialen Konflikte und Kompetenzstreitigkeiten wurde die Scharwache 1756 einer grundlegenden, jedoch vergeblichen Revision unterzogen und schließlich in ihrem ursprünglichen Aufgabenbereich durch „eine von der Schaarwache verschiedene Ja[e]ger- oder Polizeywache“ (Meiners 1801, S. 275) ersetzt. Die Institution Scharwache war damit, soweit ersichtlich, bereits nach 28 Jahren endgültig erloschen. Die Bezeichnung der Lokalität auf der Rückseite des Rathauses als „Scharwache“ blieb jedoch bestehen. Die verbliebene „kleine Scharwache“ (so Brüdermann 1990, S. 84) für rein städtische Angelegenheiten war weiterhin im Rathaus ansässig, scheint jedoch wieder als Bürgerwache konstituiert gewesen zu sein (jedenfalls in den 1830er Jahren: Lüdtke 1988, S. 164).

Handlungsunfähigkeit durch Kompetenzkonflikte und akademische Distinktion

Das zentralste Problem der Scharwache war, dass sie zwar organisatorisch sowie in ihrer Gerichtsbarkeit der Stadt zugeordnet war, jedoch gegebenenfalls auch universitärer Weisung unterlag. Dies war das Resultat einer „Generalrequisition“, die erforderlich schien, damit die Studentenschaft sich bei Zugriffen durch die Scharwache nicht in ihrer akademischen Freiheit beschnitten sehe (Brüdermann 1990, S. 79 f.).

Das Dilemma, in dem sich die Scharwache als Institution befand, fasste der Göttinger Ordinarius Christoph Meiners 1801 wie folgt zusammen: „Die Schaarwache mochte sich benehmen, wie sie wollte, so that sie weder den Studierenden, noch der akademischen Obrigkeit jemals Genu[e]ge. Bald klagte man, daß sie zu spa[e]t, oder nicht nachdru[e]cklich genug gesteuert; viel ha[e]ufiger, daß sie die Studierenden u[e]ber die Gebu[e]hr gemißhandelt habe“ (Meiners 1801, S. 273 f.). Sie wurde quasi handlungsunfähig. Verwaltungskonflikte waren ohnehin ein Göttinger Spezifikum, so konstatiert etwa der Göttinger Jurist Georg Heinrich Oesterley, dass „[i]n keiner Stadt der Hannoverschen Lande […] sich eine verwickeltere Gerichtsverfassung, als in Göttingen“ finde (Oesterley 1833, S. 1).

Jedoch nützte dieser Vermittlungsversuch in Form der „Generalrequisition“ zwischen Stadt und Universität nichts. Denn es bestand von Anfang an Feindschaft zwischen den Studenten und den Scharwächtern, die vom akademischen Nachwuchs abwertend als „Schnurren“ bezeichnet wurden. Die tiefe Abneigung veranlasste die Studenten nicht nur zu Allianzen mit ihnen grundsätzlich ebenfalls ungeliebten Personengruppen (Soldaten, Handwerker), sondern nahm mithin 1736 sogar tödlichen Ausgang; Scharwächter Christian Kasten starb durch einen Degenstich ins Herz (Brüdermann 1990, S. 83 f., 461-464).

Generell ist für die Studentenschaft das immer wiederkehrende Insistieren auf ihre akademische Freiheit sowie die Betonung ihrer studentischen Ehre charakteristisch (vgl. etwa Brüdermann 1990, S. 464-469; Tütken 1999, S. 41-48).

Wie weit es allerdings tatsächlich mit der Ehre der studiosi her war, zeigt sich an zahlreichen und verschiedensten Stellen. Universitäts-Prediger Gottfried Leß etwa charakterisierte die Studentenschaft der Anfangsjahre, anlässlich seiner „Jubelpredigt“ zum 50jährigen Universitätsjubiläum folgendermaßen: „Mehr ein Schwarm von Bachanten und Unsinnigen, als eine Gesellschaft von So[e]hnen der Musen und Lieblingen der Wissenschaften. Jn den Ho[e]rsa[e]len: Tumult; Grobheit; Barbarey; auf den Strassen, Geschrey und fu[e]rchterliches Getu[e]mmel am Tage und des Nachts Schrecken und Verwu[e]stung! Viel grobe Unthaten, auch Morde der Studierenden“ (Pütter 1788, S. 408; dazu auch Nissen 1972, S. 38).

Auch der wütende Brief einer Mutter, der Baronin von Moringen, an ihren Filius vom 11. August 1756, legt beredtes Zeugnis vom ehrenvollen Studentenleben ab, wenn sie schreibt: „Seine Schmierereien habe ich erhalten und daraus gesehen, daß Er beim Schreiben derselben voll und toll sein mußte wie eine Haubitze, auch riecht das Briefpapier so er verwendet hat, nicht nach dem Studierzimmer eines braven Studenten, sondern es stinkt nach einem ganz gemeinen Parfum, nach Tabak und Kneipe. […] der Donner soll hereinschlagen, wenn ich Ihm nicht seine Marotten aus dem Schädel treibe. […] Ich aber erwarte mit nächstem Schreiben das Versprechen, sich zu bessern, sonst lasse ich anspannen und sehe selbst nach dem Rechten“ (Klein/Müller-Ruguski 1986, S. 70 f.).

Besonders eindrucksvoll präsentiert sich die studentische Distinktion zudem im poetischen Gewande des 1734 verfassten „Reglement für einige auf der Universität Göttingen grob gesinnte“ (Unger 1861, S. 165; dazu auch Kühn 1987, S. 150-152):

„Bürger, lernet höflich sein,
sonst wird man euch Mores lehren,
Euren Buckel blau verkehren,
und die Fenster schmeissen ein.
Sollen euch nicht Pursche brühen,
Müsst ihr fein den Hut abziehen,
Damit legt ihr Ehre ein,
Bürger, lernet höflich sein.
Nennt die Purschen nicht mehr Er,
Wenn ihr sie um etwas fraget,
Redet ihr mit Uns, so saget:
Was befehlen Sie, mein Herr!
So wird man euch höflich nennen,
Euch für kluges Volk erkennen,
Und euch schadet nimmermehr;
Nennt die Purschen nur
nicht Er.
Bürger, schwäntzt die Purschen nicht,
Wollt ihr eure Nahrung treiben,
Muss Betrügerei wegbleiben,
Dieses dient euch zum Bericht.
Mit dem tische, Stub’ und Bette
Schnellt ihr Pursche um die Wette,
Weil euch noch die Kitzel sticht,
Bürger, schwäntzt die Pursche nicht.
Jungfern, denket auch daran,
Machet, seht ihr uns von ferne,
Eure Complimentgen gerne,
Sonst hängt man euch Kletten an.
Wolt ihrs mit der Grobheit wagen,
Wird man künfftig zu euch sagen:
Grobe Keule, pfui dich an!
Jungfern, denket nur daran.“

Erst nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges (1763) „sah man ein, daß es theils unschicklich sey, ehrlose Menschen, und eine ho[e]chst geehrte und edle Jugend von denselbigen Personen angreifen und ergreifen zu lassen“ (Meiners 1801, S. 274). Daher stand die nunmehr eingerichtete Jägerwache auch unmittelbar der Universität zur Verfügung (Brüdermann 1990, S. 84 f.).

 

Literatur:

Alexander, Wolfgang (1979): Als die moderne Zeit die Scharwache und Nachtwächter in der Stadt überholte, in: Göttinger Monatsblätter 6, Nr. 69, S. 8-9.

Binder, Leonore (1990): Hermann Schaper und die Neugestaltung des Göttinger Rathauses 1883-1903, Göttingen. (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen; Bd. 16).

Brüdermann, Stefan (1990): Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen. (Göttinger Universitätsschriften. Serie A: Schriften; Bd. 15). (Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1987).

Kühn, Helga Maria (1987): Studentisches Leben im Göttingen des 18. Jahrhunderts nach zeitgenössischen Berichte, Briefen, Reisebeschreibungen und Akten des Stadtarchivs, in: Hans-Georg Schmeling (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen. 26. April – 30. August 1987, Göttingen, S. 145-181.

Lüdtke, Alf (1988): Polizeiliches Einschreiten und „Menschengefühl“. Zwei Szenen aus dem Göttingen von 1830, in: Kornelia Duwe/Carola Gottschalk/Marianne Koerner (Hrsg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Wieden.

Schmeling, Hans-Georg (1987): Stadt und Universität im Spiegel der ersten Göttinger Wochenblätter, in: ders. (Hrsg.), Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen. 26. April – 30. August 1987, Göttingen, S. 31-72.

Tütken, Johannes (1999): Die Forderung nach Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit im Revolutionsjahr 1848 und ihr Scheitern. Gleichheit und Ungleichheit vor Gericht und Polizei, in: Georgia Augusta. Nachrichten aus der Universität Göttingen 70, S. 41-49.

Quellen:

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1893): Deutsches Wörterbuch, Bd. 14 (Bd. 8: R – Schiefe). Leipzig [Nachdruck: München 1984]. Online verfügbar unter URL: http://dwb.uni-trier.de/de/.

Hollmann, Samuel Christian (1787): Die Georg-Augustus-Universita[e]t zu Go[e]ttingen, in der Wiege, in Jhrer blu[e]henden Jugend, und reiffererm Alter. Mit unpartheiischer Feder entworfen von Einem Jhrer Ersten, und nun allein noch u[e]brigem, Academischem Lehrer. Hrsg. v. Johann Beckmann. Göttingen. Online verfügbar unter: URL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN638577810.

Kelterborn, Ernst (1936): Göttinger Rathaus und Marktplatz im Wandel der Zeit, Göttingen.

Klein, Diethard H./Müller-Roguski, Teresa (Hrsg.) (1986): Göttingen. Ein Lesebuch. Die Stadt Göttingen einst und jetzt in Sagen und Geschichten, Erinnerungen und Berichten, Briefen und Gedichten, Husum.

Meiners, C[hristoph] (1801): Ueber die Verfassung und Verwaltung deutscher Universita[e]ten, Bd. 1. Göttingen. Online verfügbar unter: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10733812-9.

Nissen, Walter (1972): Göttingen gestern und heute. Eine Sammlung von Zeugnissen zur Stadt- und Universitätsgeschichte, Göttingen.

Oesterley, [Georg Heinrich] (1833): Darstellung der Gerichtsverfassung in der Universitätsstadt Göttingen, Göttingen. Online verfügbar unter: http://books.google.de/books?id=YlREAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false.

Pütter, [Johann Stephan] (1788): Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universita[e]t zu Go[e]ttingen. Zweyter Theil von 1765. bis 1788, Göttingen. Online verfügbar unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN333024753.

Unger, Friedrich Wilhelm (1861): Göttingen und die Georgia Augusta. Eine Schilderung von Land, Stadt und Leuten in Vergangenheit und Gegenwart für Einheimische und Fremde, Göttingen. Online verfügbar unter: http://books.google.de/books?id=53wAAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false.

Universita[e]ts-Neuigkeiten (1735), in: Wo[e]chentliche Go[e]ttingische Nachrichten, hrsg. v. Samuel Christian Hollmann, XXX. Stu[e]ck. v. 5. September 1735, S.3-4. Online verfügbar unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN719962684.

Waldwege, Fritze vom (1934): Von der alten Chöttinger Scharwache. Dem Leben nacherzählt, in: Alt-Göttingen. Blätter zur Geschichte der Universitätsstadt. Beilage der Göttinger Zeitung, Nr. 17, S. 51.

Stand: 31.01.2013

Prostituierten-Wohnungen in der Düsteren Straße

von Wiebke Schneider

Prostitution hat eine lange Tradition und gilt als „ältestes Gewerbe der Welt“. Doch wie sah es vor Ort, in Göttingen aus? Auch dort gab es im 19. Jahrhundert – besonders in bestimmten Straßen – Wohnungen, in denen Frauen gegen Geld ihren Körper verkauften. Mehrere Prostituierte lebten im 19. Jahrhundert in der Düstere Straße. Der Ort bietet den Anlaß für Fragen: Was verbarg sich hinter dem Gewerbe? Wieso wählten die Frauen diesen Beruf und wie gestaltete sich ihr Leben? Die Lebensverhältnisse der Prostituierten in dieser Straße, aber auch im übrigen Stadtgebiet werden hier beleuchtet.

Die Prostituierten-Wohnungen in der Düsteren Straße

Die Düstere Straße in der Innenstadt läuft als zweite Straße des Nikolaiviertels nach Süden auf einen Turm und die Stadtmauer zu und ist schmal und dunkel (Klein-Paris) . Die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert errichteten Fachwerkhäuser wurden von meist armen Leuten bewohnt. (Möller 1982, S. 48f.). Noch heute stehen neben neuen Bauten Fachwerkhäuser.

Häuserfront in der Düsteren Straße

Häuserfront in der Düsteren Straße

Früher befanden sich dort auffallend viele Prostituierten-Wohnungen. Überdurchschnittlich viele uneheliche Kinder wurden hier geboren, im 19. Jahrhundert nahezu in jedem Haus (siehe zu unehelichen Geburten: Accouchierhaus). Wohlsituierte Bürger differenzierten bei unehelichen Geburten selten, da für sie der Übergang zu „liederlichen Mädchen“, lockerer Moral und letzten Endes zur Prostitution als fließend galt (Gattermann 2009, S.38). Tatsächlich registrierte die Göttinger Polizei einige der Prostitution verdächtige Frauen. Ob der Beweis hierfür angetreten oder sie Opfer übler Nachrede wurden, ist unklar. Jedoch waren sie oft als Mütter unehelicher Kinder in den Geburtenregistern verzeichnet. Nachbarn beschwerten sich häufig bei der Polizei, damit das unerwünschte Gewerbe untersagt und Belästigungen wie Prügeleien und Lärm unterbunden wurden. Nach Polizeiberichten lebten in Prostituierten-Wohnungen in aller Regel unverheiratete Frauen. Ende des 19. Jahrhunderts waren solche Wohnungen beispielsweise in der Düsteren Straße Nr. 12, 17, 25 und 29. (Gattermann 2009, S. 39) Heute findet man dort normale Wohnungen, Läden, Firmen und z.B. auch den Deutschen Entwicklungsdienst.

Düstere Straße

Ärmliche Wohnhäuser in der Düsteren Straße

Prostitution in Göttingen

Ob es in Göttingen neben den Prostituierten-Wohnungen noch Bordelle gab, ist strittig. Das wird von Koerner und Reiter verneint (Koerner 1989, S.49 ff./ Reiter 1996, S. 167ff.). Laut Gattermann befanden sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch in der Geismar Chaussee 95, im Düsteren Eichenweg 47 und in der Groner Chaussee vier Bordelle, die von einer Wirtin bzw. Zuhälterin betrieben wurden. Sie waren also nahe des Bahnhofs, der Kaserne oder dem Ostviertel gelegen, der neuen Wohngegend der reichen Göttinger Bürger (Gattermann 2009, S. 30f.). Sicher ist, dass es Straßenprostituierte gab, und zwar von 1880 bis 1930 vier bis zwölf Frauen. (Koerner 1989, S. 46).

Oftmals prostituierten sich Frauen, die ihre Arbeit verloren und/ oder sich verschuldet hatten. Beispielsweise handelte es sich oft um schwangere Dienstmädchen, denen deshalb gekündigt worden war, und die ihre Schulden zurückzahlen mussten. (Koerner 1989, S. 41ff.).

Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Kontrollen und Verordnungen zur Vorbeugung von Krankheiten und Sittenverstößen verschärft. Eine städtische Verordnung listete Orte auf, die zu meiden waren und legte die Höhe der Strafen bei Zuwiderhandlung fest. Ein Aufenthaltsverbot auf öffentlichen Plätzen ab gewissen Uhrzeiten und verpflichtende Gesundheitskontrollen wurden angeordnet (Koerner 1989, S.47). Diese Reglementierungen galten ausschließlich für anstößiges Verhalten der Frauen. Sie reglementierten keineswegs das Verhalten der Männer und verkörperten so die Doppelmoral der damaligen Gesellschaft (Koerner 1989, S. 42).

Bekannt ist, dass bereits 1893 Mädchenhandel in der Stadt betrieben wurde. Unter einem Vorwand in fremde Städte gelockt, arbeiteten sie unter Zwang als Straßenprostituierte oder im Bordell. Dies war allerdings keineswegs ein spezielles Göttinger Problem: 1910 wurde ein internationales Abkommen zum Kampf gegen Mädchenhandel geschlossen. Darüber hinaus wurde ein Hilfsverein gegründet. Er sollte fremden Mädchen Hilfe anbieten und ein Abrutschten in die Prostitution verhindern. Um diese Gefahr möglichst zu unterbinden, engagierten sich in diesem Verein auch Göttingerinnen und leisteten Präventionsarbeit (Koerner 1989, S.48). Das Ziel war präventiv, da sie nach den damaligen Ansichten durch das Abrutschen in die Prostitution bereits „verloren“ waren. Der Ehrverlust der Mädchen musste verhindert werden – dazu zählten außereheliche Beziehungen; aber auch Tanzveranstaltungen zu besuchen oder alleine abends durch die Stadt zu spazieren, galt als ehrenrührig (für die soziale Arbeit bürgerlicher Frauen siehe Frauenverein).

Die Prostituierten hatten einen schlechten Stand in Göttingen, da sie von Mitbürgern als „Aussätzige“ diskriminiert wurden. Zur Einhaltung der Sittlichkeitsbestimmungen wurden sie von der Sittenpolizei kontrolliert (Koerner 1989, S. 48). Die zur Eindämmung von Geschlechtskrankheiten verschärften gesundheitlichen Verordnungen und Kontrollen wurden von den Frauen vielfach durch einen Wechsel des Ortes umgangen. Da die meist mittellosen Prostituierten Heilbehandlungen und die zwei Gesundheitskontrollen pro Woche selten zahlen konnten, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts eine selbstständige „Krankenkasse für Prostituierte“ gegründet, die mit der Polizei-Krankenkasse kooperierte (Koerner 1989, S. 49).

Dennoch nahm die Zahl der Geschlechtskranken zu. Zu Beginn des 1. Weltkriegs war der Aufenthalt Prostituierter in der Nähe der Kaserne und des Bahnhofs untersagt.  Nach vorherrschender Meinung bedrohten sie die Gesundheit der Soldaten und damit die Schlagkraft des Heeres. Da Soldaten häufig bereits unter Geschlechtskrankheiten litten, musste sollte die Ansteckungsgefahr möglichst gering gehalten werden. Die Angst vor dem Versagen des Heeres war so groß, dass auch die Maßnahmen zur gesundheitlichen Kontrolle nochmals verschärft wurden. Trotzdem wurde die Prostitution staatlich organisiert, wobei nur die Frauen gesundheitlich kontrolliert wurden. Im Jahre 1916 wurde in Göttingen eine Beratungsstelle für Geschlechtskranke geschaffen – im norddeutschen Vergleich relativ spät (Koerner 1989, S.49).

Das Ende des 1. Weltkrieges veränderte die Situation dahingehend, dass die Polizei straffällige oder verwahrloste Frauen verstärkt betreute. Mit Beginn des Nationalsozialismus radikalisierte sich die Kontrollpolitik. Um die Übertragung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen, veranlasste der Reichsminister des Innern am 9.9.1939 darüber hinaus, dass in allen deutschen Städten Bordelle gegründet werden sollten. Angeblich sollten Wehrmachtssoldaten und das übrige Volk vor der „Gefahr“ der Prostitution geschützt werden. Vor 1933 befand sich in Göttingen kein Bordell, jedoch etliche Straßenprostituierte, die sich ab dem Jahre 1934 nicht mehr auf öffentlichen Plätzen aufhalten durften. Das Bordell sollte in der Speckstraße 8 eingerichtet werden, wogegen die Bevölkerung bald mit Erfolg protestierte (Reiter 1996, S. 167 ff.).

In den 1950er Jahren begann eine weitere Phase der Tabuisierung der Prostitution. So wichen die Prostituierten-Wohnungen in der Düsteren Straße normalen Wohnhäusern, Firmen oder Läden. Heute sind keine Bordelle mehr im Stadtzentrum angesiedelt.

Literatur:

Gattermann, Claus Heinrich (2009), Am Rande der Gesellschaft. Uneheliche Geburten in Göttingen 1875 bis 1919, Göttingen

Koerner, Marianne (1989), Auf die Spur gekommen, Frauengeschichte in Göttingen, Göttingen.

Möller, Hans-Herbert (Hg.) (1982), Baudenkmale Stadt Göttingen

Reiter, Raimond (1996), Die Auseinandersetzung zur Einrichtung eines Bordells in Göttingen im zweiten Weltkrieg, in: Göttinger Jahrbuch (1996), S.167-176.

Bildquellen:

Bilder des Archiv des Göttinger Stadtmuseums

(Stand: 31.1.2013)

„Klein-Paris“ in der Turmstraße

von Annika Reincke

„Klein-Paris“ wurde die Turmstraße in Göttingen genannt, in der die armen Menschen der Stadt wohnten. Der folgende Artikel befasst sich mit dieser Wohngegend im 18. und 19. Jahrhundert und geht dabei auf die Bewohner/innen, die Wohnverhältnisse und deren Auswirkungen für die Menschen in der Turmstraße ein.

Bewohner/innen

Um 1730 betrug die Einwohnerzahl Göttingens ca. 5000 Menschen. Die Armen und Bettler der Stadt Göttingen machten ca. 28% der Stadt aus, jedoch vermutet man, dass die damalige Dunkelziffer bei ca. 50% lag (Rohrbach, 1987, S. 183). Nach Verzeichnissen der Stadt von 1763 war rund jeder zweite Bewohner Göttingens „nonvalent“, d. h. er war aufgrund von Armut nicht steuerpflichtig. Diese Menschen lebten vorrangig an den Stadträndern, wie zum Beispiel im Ritterplan, an der Neuen Leine oder eben in der Turmstraße, die vermutlich wegen der dort ausgeübten Prostitution auch „Klein-Paris“ genannt wurde. Ob die Menschen mithilfe von Prostitution in dieser Straße wirklich häufiger, als in anderen armen Wohngegenden Göttingens, ihr Geld verdienten, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. In den Augen wohlhabender Stadtbürger und vieler Studenten der Zeit ging Armut mit Ehrlosigkeit einher. Der Schweizer Student Carl Hochheimer berichtete z.B. 1791 von der „Straße die klein Paris genennet wird, und in welcher die Häuser mehr Schweineställen als Menschenwohnungen ähnlich sind“ (Hochheimer 1791, S. 40). Es kann sich folglich um einen Mythos handeln, wenn man die Turmstraße wegen ihrer Prostitution auch „Klein-Paris“ nannte. Dennoch –  die Hälfte der Bewohner/innen von Klein-Paris lebten von Prostitution und Bettelei, andere waren „kleine“ Handwerker, Tagelöhner und Arbeitslose (von Frieling 1988, S. 18-31). Die Einnahmen der Menschen betrugen oft nicht mehr als 14 Mark im Monat. Allerdings kosteten auch die „Armen-Wohnungen“ 90 Mark jährlich, weshalb die meisten Bewohner auf Unterstützung angewiesen waren (siehe hierzu auch Armen-Arbeitshaus) (Wever, 1988, S.112-116).

Wohnverhältnisse in „Klein-Paris“

Die Bewohner der Turmstraße lebten in aus heutiger Sicht kaum vorstellbaren Verhältnissen. Die Häuser, die die Stadt auf Lebenszeit an Arme vermietete, wurden auch als „Buden“ bezeichnet (Schwibbe, S. 151). Eine Wohnung in „Klein-Paris“ bestand aus zwei Räumen, die übereinander lagen und mit einer Leiter aus Brettsprossen miteinander verbunden waren. Der untere Wohnraum war zwei Meter breit, drei Meter lang und zwei Meter hoch. Er umfasste demzufolge nur zwölf Kubikmeter. Bewohnt wurde dieser Raum, in dem auch gekocht wurde, durchschnittlich von zwei Erwachsenen und vier Kindern. Der obere Raum, ebenfalls von zwei Erwachsenen und vier Kindern bewohnt, bestand aus lediglich 10,50 Kubikmeter.

"Klein-Paris" um 1900. Quelle: Rohrbach, 1987, S. 186.

„Klein-Paris“ um 1900. Quelle: Rohrbach, 1987, S. 186.

Der Nachtstuhl, der für alle Bewohner der Wohnung gedacht war, stand offen an der Leiter und musste jeden Tag eine längere Strecke fortgetragen werden. Ein Hofraum oder Ähnliches gab es in diesen Vierteln der Turmstraße nicht. Es gab sogar Wohnungen, die von der Grundfläche noch kleiner waren, in denen aber die gleiche Anzahl Menschen wohnte. Durch den heißen Ofen in den Wohnungen stank es und wurde entsetzlich heiß. Bei feuchtem Wetter wurden auch die Wände der Wohnungen feucht, wodurch es häufig zu Schimmel kam (Wever 1988, S. 112-116; Wedemeyer-Kolwe 2002, S. 466).

Auswirkungen

Neben der schlechten Ernährung war die katastrophale Wohnsituation in den armen Wohngegenden in Göttingen einer der Hauptgründe für die hohe Zahl der Erkrankungen. Mangelerkrankungen. Größere Anfälligkeit für epidemische Krankheiten waren hauptsächlich in der Unterschicht Göttingens zu finden. Die Kindersterblichkeit war hier besonders hoch. Für die hohe Zahl der Erkrankungen waren vor allem der Estrichboden in den Wohnungen und die niedrige Deckenhöhe mit der Hitze, dem Tabakqualm, dem Schimmel und dem Lichtdunst verantwortlich (Rohrbach, 1987, S. 187 ff.). Die damals sowieso schon schlechte Stadtluft wurde durch die engen Gassen in „Klein-Paris“ noch verschlechtert. Diphtherie, Scharlach und Masern waren weit verbreitete Krankheiten in Göttinge , die durch die schlechten Wohnsituationen verstärkt hervorgerufen wurden (Wever 1988, S. 112-116). Hunger und Krankheiten gehörten für die ärmeren Menschen Göttingens zum Alltag. Die Buden an der Stadtmauer wurden 1885 abgerissen; im Göttinger Adressbuch tauchte 1899 zum ersten Mal der neue Name Turmstraße auf.

Literatur

Frieling, Hans-Dieter von (1988): Der Bau des Gehäuses.Die Entwicklung der Stadt Göttingen seit dem 18. Jahrhundert. Ein Vergleich von Landkarten, in: Kornelia Duwe, Carola Gottschalk, Marianne Koerner (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel: Texte und Bilder zur Stadtgeschichte. Gudensberg-Gleichen, S. 18-31.

Rohrbach, Rainer (1987): „Allerley unnützes Gesindel…“ Armut in Göttingen, in: Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht; Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen 26. April – 30. August 1987, Hans-Georg Schmeling (Hg.). Göttingen, S. 183-214.

Schwibbe, Gudrun (2002), Wahrgenommen. Die sinnliche Erfahrung der Stadt, Münster.

Wedemeyer-Kolwe, Bernd (2002): Göttinger Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ernst Böhme/ Dietrich Denecke (Hg.), Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen: Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648-1866), Göttingen, S. 451-478.

Wever, Fritz (1988), Wohnverhältnisse in Göttingen um 1900, in: Duwe u.a., Göttingen ohne Gänseliesel, S. 112-116.

Quelle

Hochheimer, Carl F.A. (1791), Göttingen: Nach seiner eigentlichen Beschaffenheit zum Nutzen derer, die daselbst studiren wollen, Lausanne.